Staatenbündnis:Europa ist 2015 nicht, noch nicht, gescheitert

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Katalysator Flüchtlingsfrage: Kanzlerin Angela Merkel mit EU-Kommissionpräsident Jean-Claude Junker beim EU-Sondergipfel im September. (Foto: Martin Meissner/AP)

Der EU geht es schlecht. Von den Versprechungen des Europawahlkampfs 2014 ist wenig übrig geblieben.

Kommentar von Kurt Kister

Das Jahr 2015, das sich dem Ende zuneigt, war kein gutes Jahr für Europa. In der ersten Jahreshälfte wurde darüber gestritten, ob die mögliche Pleite des Euro-Staats Griechenland nicht nur die Währung gefährdet, sondern auch das Konzept Europa insgesamt bedroht. Zwar gelang es wieder einmal, die Euro-Krise vorübergehend zu entschärfen. Das lag auch daran, dass die Athener Linksregierung vom Widerstand zur Kollaboration überging. Seit dem Sommer aber ist so deutlich wie nie, dass Europa nicht weiter zusammenwächst.

Die Flüchtlinge sind nur ein Katalysator für die Entwicklungen

Dabei ist der Andrang der Flüchtlinge nur ein Katalysator für etliche Entwicklungen, die seit Längerem stattfinden. Im Osten der EU ist eine Re-Nationalisierung zu beobachten; man sucht die Zukunft in einer glänzenden nationalen Vergangenheit, die es so nicht einmal vor der Jahrzehnte währenden Zwangsmitgliedschaft im sowjetischen Machtbereich gegeben hat.

Im Süden Europas wiederum haben nicht zuletzt die ökonomischen Unterschiede zum Norden der EU identitäre, zum Teil regionalistische Strömungen befeuert, die mal im dominanten Deutschland, mal im gesichtslosen "Brüssel" die Ursache vieler Übel sehen.

In der Mitte liegt Kerneuropa, in dem viele ebenfalls ernüchtert sind. Das grenzenlose Miteinander, das im Kalten Krieg nur ein Traum war, scheint nun vom Ideal zur potenziellen Gefahr geworden zu sein, nicht nur für Sympathisanten von Le Pen und Pegida, sondern auch für so unterschiedliche Charaktere wie den manierenlosen Horst Seehofer oder den besorgten französischen Sozialisten-Premier Manuel Valls.

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Bei seiner Rede in der Berliner Humboldt-Universität im Mai 2000 hatte der damalige Außenminister Joschka Fischer konstatiert, Europa stehe am Scheideweg zwischen Integration und Erosion. Gut 15 Jahre später deutet fast alles darauf hin, dass Europa erodiert.

Beispiel Polen. Kein anderer Staat hat historisch so sehr unter Deutschland und Russland, unter West und Ost, gelitten wie Polen. In Polen zeichnete sich früher als anderswo das beginnende Ende des staatlich organisierten Sozialismus sowjetischer Prägung ab. Nach der Wende gehörte Polen zur ersten Welle der neuen Europäer; das "Weimarer Dreieck", eine Kooperation zwischen Warschau, Paris und Berlin, symbolisierte den frischen Wind, der alte Konflikte, Blockdenken und Missgunst aus Europa zu blasen schien.

Während der Blockkonfrontation schwärmten Intellektuelle und Künstler in West und Ost von "Mitteleuropa" als einer Alternative. Nach der Wende kam der Begriff vom "postnationalen Europa" in Mode. Leider blieb dies mehr Hoffnung als Beschreibung, mehr Konzept als Realität.

In Warschau zum Beispiel bestimmt eine dezidiert post-postnationale Regierung die Dinge. Wie die ungarischen Brüder und Schwestern im Geiste halten die polnischen Regierenden die Flüchtlinge in Europa für ein in erster Linie von den Deutschen geschaffenes Problem. Weder sehen sie eine europäische Verantwortung, noch wollen sie sich an einer Lösung beteiligen.

In Polen selbst ist außerdem erst mal Kulturkampf angesagt, nicht nur gegen die Linken und Liberalen, sondern auch gegen das multikulturelle Europa, gegen Pornografie und Werterelativismus. Man fürchtet um das polnische Abendland, als sei Warschau alle Tage Dresden am Montag.

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Ähnlich geht es in Ungarn zu, nur dass da das ungarische Abendland im Fokus steht. In Rumänien und Bulgarien sind die Verhältnisse nicht besser; es wird nur weniger darüber geredet. Beide Länder waren die Fußkranken der EU-Integration, was so lange nicht störte, wie Europa relativ gut funktionierte.

In Deutschland gilt auch heute noch den meisten Menschen ein konsensuales Staatenbündnis Europa als die bessere Zukunft - nicht zuletzt, weil Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Nationalstaat zum nationalistischen Eroberer mutiert ist. Die europäische Identität hatte (und hat) für viele Deutsche auch selbstreinigenden Charakter. Anderswo, in Polen und Ungarn, aber auch in Großbritannien oder Dänemark, wird das anders gesehen. Dort hat man auch den Konsens über eine föderale Zukunft in Europa entweder aufgekündigt oder ist ihm ohnehin nie nähergetreten.

Europa ist 2015 nicht, noch nicht, gescheitert. Aber von den vielen Hoffnungen und Versprechungen, die 2014 im Europa-Wahlkampf gehegt und gemacht wurden, ist nicht viel übrig geblieben. Das ist weniger die Schuld der EU-Institutionen oder des Parlaments. Aber die sind auch nicht Europa, sondern sie organisieren es nur. Europa besteht aus den Staaten der Gemeinschaft. Und etliche dieser Staaten entfernen sich immer mehr, immer weiter von Europa.

© SZ vom 26.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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