EU-Parlament:Entfremdet im eigenen Milieu

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Seit sieben Jahre ist Rebecca Harms Ko-Vorsitzende von Europas Grünen. Jetzt will sie frustriert das Amt abgeben. Sie hat keine Lust mehr auf Kompromisse, die sie nicht für richtig hält.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Sie hat lange nachgedacht über den Schritt. Seit mehr als sieben Jahren ist Rebecca Harms Ko-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament. Kein geringer Job, denn angesichts der de facto bestehenden ewigen großen Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten fällt den Grünen eine wesentliche Rolle in Brüssel und Straßburg zu: die der konstruktiven Opposition. Aber es geht nicht mehr. Harms hört auf, tritt bei der Wahl der Fraktionsspitze im Dezember nicht wieder an.

Es ist die Geschichte einer Entfremdung. Typisch grün, typisch auch für die schier unlösbaren Konflikte und Dilemmata, die Europa zu zerreißen drohen. Harms fühlt sich unwohl auf ihrem Posten. "Es ist normal, sich hin und wieder in einer Minderheitenposition zu befinden", sagt sie. "Aber es hat sich in meiner Fraktion anders entwickelt, als ich es erwartet hatte. Ich muss Kompromisse machen, die ich politisch nicht mehr richtig finde."

Beim Thema Ukraine ist sie für klare Kante gegenüber Putin

Die Niedersächsin, 59, die aus der Anti-Atomkraft-Bewegung in die Politik fand, ist die "Reala" im Vorstand, teilt sich den Job mit dem belgischen "Fundi" Philipp Lamberts, dem Nachfolger Daniel Cohn-Bendits. Inzwischen liegt sie in entscheidenden Politikfeldern quer zum Mainstream der 50 Mitglieder starken Fraktion: In der Euro-Krise pocht sie auf die Defizitkriterien und sieht die Schuld nicht nur in Brüssel oder Berlin, sondern zu einem Großteil auch in Athen. Beim Thema Ukraine tritt sie für Sanktionen und klare Kante gegen Wladimir Putin ein. In der Flüchtlingskrise verteidigt sie das Abkommen mit der Türkei und fordert, Ähnliches mit anderen Transit- und Herkunftsländern abzuschließen. Und für den Freihandel kämpft sie auch. "Was die EU an Stabilisierung auf dem Kontinent erreicht hat, basiert auch auf Handel und Markt."

Von den Kollegen, die in der Fraktion und auch in der Öffentlichkeit den Ton angeben, Ska Keller, Sven Giegold oder Jan Albrecht, hört man anderes, nämlich ziemlich genau das Gegenteil. Mit einem ständigen "Ja, aber", oder genauer: einem "Ja, aber, aber, aber" lasse sich die EU in der gegenwärtigen Lage jedoch nicht verteidigen, sagt Harms. Sie hat das Gefühl, dass viele Kollegen "eigentlich eine ganz andere", eine sozial gerechtere EU, eine "Sozial-Union" wollen. "Die EU ist weder für Sozial- noch für Arbeitsmarktpolitik zuständig. Dass in vielen Ländern die Sozialsysteme nie ordentlich funktioniert haben, können wir nicht allein Brüssel ankreiden."

Das aus ihrer Sicht übertriebene Eintreten für soziale Aspekte hält sie sogar für schädlich im Moment. "Es wird so getan, als sei die EU kurz vor dem gesellschaftlichen Zusammenbruch und alles scheitere." Wer hier "pauschal dramatisiere", werde es schwer haben, gleichzeitig für die "unbedingt nötige" Aufnahme einer hohen Zahl von Flüchtlingen Zustimmung zu finden. In der Flüchtlingspolitik helfe "Opposition und Radikalität allein" nicht weiter, "das stärkt die Polarisierung, die überwunden werden muss. Gerade weil es um Menschen geht, brauchen wir Zustimmung und Konsens."

Europas Grüne sieht Harms geografisch gespalten. Rückhalt erfährt sie vor allem aus Skandinavien, wo man, wie sie selber, vor allem Kompromisse und Lösungen sucht. In Frankreich oder Spanien ticken die Grünen anders. Besonders schmerzhaft ist für die deutsche Politikerin aber offenbar ihre Isolierung in der Russland-Politik. Sie war oft in der Ukraine, hat Freunde unter der Maidan-Bewegung, und glaubt, weil sie "den Krieg direkt erfahren hat", etwas vom Thema zu verstehen. "Der Krieg im Donbass ist eine direkte Folge des tiefen Wunsches der jungen nachsowjetischen Generation in der Ukraine nach EU- und Westbindung und einem Handelsabkommen, das diese Bindung festigt."

Und die EU, wie geht es mit ihr weiter angesichts der vielen Krisen? Manchmal fragt sich Harms, "ob die Jahrzehnte ihres Aufbaus und Wachsens nur eine Atempause der Geschichte waren und das andere, die Abwesenheit von Frieden, das normale ist". Deshalb möchte sie "ohne Wenn und Aber" für diese Union eintreten. "Ich bin misstrauisch, wenn leichtmütig eine neue Begründung für die EU gefordert wird. Gibt es eine bessere Begründung als die, dass wir unsere Interessen gemeinsam wahrnehmen, statt uns wegen dieser Interessen die Köpfe einzuschlagen?"

Harms selbst will im EU-Parlament bleiben, nur nicht mehr in leitender Funktion, wo sie überwiegend moderieren und Interessen ausgleichen musste. "Verzicht auf ein bisschen Macht gibt Freiraum." Sie will "mehr bewegen", ihre Überzeugungen sind schärfer geworden.

Europas Grüne erleben damit einen Generationenwechsel, der sich seit Längerem abgezeichnet hat. Ska Keller, 34, steht bereit, Harms zu beerben. Die Ostdeutsche ist talentiert, stark in den Medien, und betreut mit Migration und Handel die aktuell brisanten Themen.

© SZ vom 25.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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