EU-Kommission:Angst vor dem Präzedenzfall

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Zwischen Parlament und den Regierungschefs ist es hoch umstritten, wer den Chef der Behörde bestimmt.

Von Thomas Kirchner

Die EU ist eine Institution im Wandel, work in progress sozusagen: Ihre Mechanik verändert sich ständig. Alle paar Jahre wird die Balance zwischen den wichtigsten Spielern in Brüssel - Mitgliedstaaten, Europäisches Parlament und Kommission - neu austariert, als Reaktion auf gewandelte Machtverhältnisse oder Interessen. Der informelle, also nicht reguläre Gipfel an diesem Freitag ist ausdrücklich solch "institutionellen" Fragen gewidmet.

Im Mittelpunkt steht das System der Spitzenkandidaten. Es wurde 2014 erstmals ausprobiert, als es darum ging, einen neuen Präsidenten der Kommission zu bestimmen. Das ist ein mächtiges Amt, weil alle EU-Gesetze von dieser Behörde ausgehen, die so etwas wie eine europäische Exekutive darstellt. Das EU-Parlament wollte nicht länger hinnehmen, dass die Staats- und Regierungschefs diesen Posten unter sich auskungeln und dann den Abgeordneten zum Abnicken vorlegen. Stattdessen sollte das Amt dem Kandidaten jener europäischen Partei zufallen, die bei der Europawahl die meisten Stimmen erhielt. Heftig grummelnd spielten die Staats- und Regierungschefs damals mit und akzeptierten Jean-Claude Juncker, den Kandidaten der siegreichen Europäischen Volkspartei (EVP). Doch betonten sie, dass dies keinesfalls als Präzedenzfall zu sehen sei.

Die Regierungschefs wollen dem Parlament die Besetzung des Chefpostens nicht überlassen

Eben dies, einen Automatismus für alle künftigen Wahlen von Kommissionspräsidenten, will das Parlament nun festschreiben. In einer Resolution "warnte" es, 2019 keinen Bewerber für die Kommissionsspitze zu akzeptieren, der nicht Spitzenkandidat bei der Europawahl war. Auf diese Ansage müssen die Mitgliedstaaten nun reagieren. Dass sie das System der Spitzenkandidaten nicht wieder aus der Welt schaffen können, ist ihnen klar. "Da müssten wir dem Parlament einen Grundsatzkampf liefern", sagt ein Diplomat eines EU-Staats, "das ist es nicht wert." Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat trotz anhaltender Skepsis ihren Widerstand aufgegeben. Nicht zuletzt, weil die EVP, der ihre CDU angehört, das System propagiert.

Aber ganz einlenken wollen die Staaten keineswegs. Die Abgeordneten könnten ja gerne ihre Spitzenkandidaten aufstellen, schrieb EU-Ratspräsident Donald Tusk den Kollegen vor dem Gipfel. Die Frage sei, ob die Regierungen das Ergebnis "automatisch akzeptieren" oder doch lieber "autonom entscheiden". Auf Letzteres verweist der Wortlaut des EU-Vertrags, wonach der Europäische Rat, bestehend aus den Staats- und Regierungschefs, "unter Berücksichtigung der Europawahlergebnisse und nach angemessenen Beratungen" dem Parlament einen Kandidaten vorschlägt.

Ein Vertragszusatz, so Tusk, fordere zudem, bei der Auswahl die demografische und geografische Diversität in der EU zu respektieren. Auch die Geschlechterbalance müsse laut Vertrag berücksichtigt werden. All dies aber, so der implizite Schluss, ließe sich nur durch einen Prozess des Aushandelns durch die europäischen Spitzenpolitiker und durch die Auswahl aus einem größeren Pool von Kandidaten erreichen.

"Die Botschaft des Gipfels wird sein: Einen Automatismus kann es nicht geben", sagt ein hochrangiger EU-Beamter. Die Staats- und Regierungschefs wollen ihren Manövrierraum behalten und sagen wohl allenfalls "Ja, aber".

© SZ vom 23.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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