EU:Frontex verlässt Ungarn

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Schwer gesichert: Die Staatsgrenze Ungarns zu Serbien im Jahr 2019. (Foto: Darko Vojinovic/AP)

Der Schritt ist eine Konsequenz aus den Vorwürfen an die Grenzschutzagentur, sie würde vor illegalen Abschiebungen von Migranten die Augen verschließen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex zieht die Konsequenzen aus der Missachtung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum ungarischen Asylsystem durch die Regierung in Budapest und stellt ihren dortigen Einsatz vorerst ein. "Unsere Anstrengungen zum Schutz der EU-Außengrenzen können nur erfolgreich sein, wenn unsere Aktivitäten und Kooperationen im Einklang mit EU-Gesetzen stehen", teilte ein Sprecher mit.

Die obersten EU-Richter hatten im Dezember weite Teile des ungarischen Asylsystems für rechtswidrig erklärt. Als Begründung führten sie unter anderem an, dass Ungarn illegal eingereiste Männer und Frauen abschiebe, ohne den Einzelfall zu prüfen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hatte damals von einem "Meilenstein-Urteil" gesprochen - und die Schwedin begrüßte noch am Mittwochabend die Entscheidung von Frontex. Nachdem der EuGH von Budapest ein Ende illegaler Abschiebungen nach Serbien gefordert habe, sei die Suspendierung "erfreulich", schrieb Johansson auf Twitter.

Die Kommissarin hatte erst Mitte Januar in der Süddeutschen Zeitung von der umstrittenen Grenzschutzagentur verlangt, dass diese alle Vorschriften einhalten und dies auch beweisen müsse. Kritiker halten Frontex vor, vor Rechtsverstößen die Augen zu verschließen. "Für mich ist es zu hundert Prozent klar, dass unsere eigene Agentur sich vollumfänglich an europäisches Recht und die Grundrechte halten muss", sagte Johansson.

Ihr Tweet lässt sich so interpretieren, dass die EU-Kommissarin den Menschenrechtsorganisationen mehr Glauben schenkt als der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orbán. Das ungarische Helsinki Committee (HHC) berichtet, dass seit Dezember fast 4500 Menschen von Ungarn aus ohne rechtmäßige Verfahren über die Grenze nach Serbien gebracht worden seien.

Die Gesamtzahl dieser illegalen, als "Pushbacks" bezeichneten Aktionen, die in Ungarn seit 2016 vorgefallen sind, beträgt laut HHC mehr als 50 000. Ihr Experte András Léderer sagte der New York Times: "Dies passiert nicht im Schatten, sondern es geschieht ganz offen." Ein Sprecher der ungarischen Regierung konterte mit der gewohnt harschen EU-Kritik. Die Grenzschutzagentur habe ohnehin "nicht viel geholfen, aber nun nimmt uns Brüssel sogar die wenige Hilfe weg, die wir erhalten", schrieb er auf Twitter.

Schwere Vorwürfe des UNHCR an die Europäer

Die neuen Zahlen über Pushbacks von Ungarn nach Serbien passen zur scharfen Kritik des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) an den europäischen Staaten. Man fürchte, dass die Praxis Schule mache, Migranten mit Gewalt an den Grenzen zurückzuweisen, erklärte die Organisation. Entsprechende Berichte häuften sich, klagt Gillian Triggs, die stellvertretende Flüchtlingshochkommissarin.

Dabei handele es sich offenbar um eine "systematische Praxis": Boote mit Ankömmlingen würden wieder hinaus aufs offene Meer gezogen, und Menschen, die es an Land geschafft hätten, würden zurück in die Boote gedrängt und zum Ablegen gezwungen. Triggs nannte keine Länder, doch zuletzt hatten Flüchtlinge über solche Rückweisungen durch die griechische Küstenwache berichtet. Zudem wird der kroatischen Polizei seit Jahren vorgeworfen, Migranten gewaltsam zurück über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina zu zwingen. "Das Recht auf Leben sowie die Rechte von Flüchtlingen zu respektieren, ist eine rechtliche und moralische Pflicht", erinnert Triggs. Das Asylrecht gelte auch in Pandemie-Zeiten.

Das UNHCR verweist darauf, dass die Zahl der in Europa ankommenden Menschen sinke: 2020 seien es 95 000 gewesen, was einer Reduktion um 23 Prozent entspricht. Die Organisation ruft jene EU-Mitglieder, die aufgrund ihrer geografischen Lage kaum von Migration betroffen sind, dazu auf, mehr Solidarität zu zeigen. Sie müssten die Länder besser unterstützen, wo die meisten Menschen ankämen.

Die Innenminister der 27 EU-Staaten diskutierten zwar in ihrer Videokonferenz am Donnerstag über die Vorschläge der EU-Kommission über eine Reform des europäischen Asylsystems, kamen aber kaum voran. Dies liegt nicht nur daran, dass das Thema als vergiftet gilt - einigen Regierungen ist es ganz recht, die Debatte mit Verweis auf die Bewältigung der Corona-Pandemie hinauszuzögern. EU-Diplomaten rechnen damit, dass es bis zu einer Einigung eher Jahre als Monate dauern wird.

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