Es war einer seiner letzten Facebook-Einträge: "Ich hoffe, der Tag wird kommen, dass ich selbst solche Aufnahmen vom Himmel aus machen kann und nicht von der Erde aus. Mein Name ist Jasser Murtadscha. Ich bin 30 Jahre alt. Ich lebe in Gaza-Stadt. Ich bin noch nie gereist!" Am Samstag starb der palästinensische Journalist Jasser Murtadscha, der Drohnenvideos für die BBC und Al Jazeera geliefert hatte, durch den Schuss eines israelischen Soldaten. Dabei hatte er eine mit "Presse" gekennzeichnete Schutzweste getragen. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman erklärte, "jeder, der mit einer Drohne in der Nähe israelischer Soldaten operiert, begibt sich in Gefahr".
Murtadscha ist eines von insgesamt 31 Todesopfern, seit sich vor eineinhalb Wochen die Auseinandersetzungen entlang der Grenze zum Gazastreifen drastisch verschärften. Bis zum 15. Mai, dem 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels, will die Hamas die Proteste vor allem an Freitagen aufrechterhalten und ein "Recht auf Rückkehr" einfordern. Durch Israels Staatsgründung waren etwa 700 000 Palästinenser vertrieben worden. Ihre Rückkehr lehnt Israel, das sich als jüdischer Staat sieht, ab.
Bisher konzentrieren sich die Auseinandersetzungen auf den Grenzzaun. Die israelische Armee will ein Durchbrechen von Palästinensern verhindern und begründet damit den Einsatz von rund hundert Scharfschützen. Nicht nur die israelische Armee fragt sich, welche Eskalationsstrategien die radikalislamische Hamas in den nächsten Wochen verfolgen wird. Dass nicht nur friedliche Demonstranten am Grenzzaun aufmarschieren, zeigt das Eingeständnis der Hamas, dass bisher fünf ihrer Kämpfer getötet wurden - laut israelischem Militär sind es sogar zehn. Die Hamas, die von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird und Israel nicht anerkannt, hat bereits gezeigt, dass sie noch über Mobilisierungspotenzial verfügt und Zehntausende ihrem Aufruf folgen. Die seit 2007 im Gazastreifen regierende Hamas hat die Unterstützung von Teilen der Bevölkerung verloren, weil sich deren ökonomische Situation drastisch verschlechterte. Rund 1,2 der knapp zwei Millionen Menschen sind auf UN-Nahrungshilfen angewiesen. Die Protestaktionen richten sich auch gegen die USA, die Gelder für Palästinenser gekürzt haben. Nun ist ausgerechnet am Jahrestag der Staatsgründung Israels die Eröffnung der US-Botschaft in Ostjerusalem geplant, das die Palästinenser als ihre Hauptstadt beanspruchen. Seit der von US-Präsident Donald Trump im Dezember vollzogenen Kehrtwende in der US-Politik mit der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels lehnen die Palästinenser die USA als Vermittler im Nahostkonflikt ab. Und an diesem Wochenende haben die USA zum zweiten Mal in Folge eine Stellungnahme des UN-Sicherheitsrats verhindert, der das Recht der Palästinenser auf friedliche Demonstrationen betont und Untersuchungen eingeleitet hätte.
In Gaza gibt es nur stundenweise Strom, und Tausende Angestellte in Behörden warten auf ihr Gehalt
Die gegen Israel und die USA gerichteten Massenkundgebungen sind auch der Versuch der Hamas, von der Misere im Gazastreifen und den Streitigkeiten mit der Fatah, welche die palästinensische Autonomiebehörde dominiert, abzulenken. Zur Verschlechterung der Lebensbedingungen im Gazastreifen führten nicht nur die scharfen israelischen Einfuhrkontrollen an der Grenze, sondern auch Sanktionen, die der palästinensische Präsident Mahmud Abbas erlassen hat. Seit Monaten gibt es im Küstenstreifen nur stundenweise Strom, und Tausende Angestellte der Behörden warten auf ihr Gehalt. Weil die Hamas aber die Macht im Sicherheitsbereich nicht abgeben will, ist die im Oktober vereinbarte Übergabe der Regierungsgeschäfte an die palästinensische Autonomiebehörde bisher gescheitert. Die Spannungen haben sich nach dem Anschlag auf den Konvoi des palästinensischen Premierministers Rami Hamdallah Mitte März im Gazastreifen verschärft. Abbas machte dafür die Hamas verantwortlich. Wer wirklich dahinter steckt, ist weiter unklar.
Längst gibt es im Gazastreifen weitaus radikalere Gruppierungen als die Hamas, die auch von Iran unterstützt werden. Der Islamische Dschihad ist in den Straßen sehr präsent. Selbst nach Einschätzung der israelischen Armee steckte nicht die Hamas hinter den mehr als 40 Raketenangriffen seit Trumps Erklärung auf Gebiete jenseits des Grenzzauns. Für den Fall, dass die Hamas künftig doch Raketen abfeuert, droht die israelische Armee bereits mit massiven Bombardierungen im Gazastreifen. Der letzte Krieg war erst 2014. Szenarien des israelischen Militärs sind außerdem, dass Soldaten entführt, Bomben entlang des Grenzzauns hochgehen könnten und versucht wird, laufende Bauarbeiten an den künftig auch unterirdisch angebrachten Grenzbarrieren zu sabotieren.
Im Westjordanland dagegen hat es gegen die Erschießung von Palästinensern wie dem Journalisten Murtadscha nicht einmal den sonst üblichen Aufruf zu einem Generalstreik gegeben. Die Bewohner des ökonomisch besser gestellten Westjordanlands und des Gazastreifens erscheinen nicht nur territorial, sondern auch emotional getrennt. Solange die rund zwei Millionen Palästinenser im Westjordanland nicht in Massen auf die Straße gehen, gibt es keine neue Intifada. Aber die Hamas hat - auch durch israelisches Zutun - wieder internationale Aufmerksamkeit für das Anliegen eines Palästinenserstaats und die Probleme im Gazastreifen erreicht.