Erforschung des Nationalsozialismus:"Hitler-Biografien haben wir genug"

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Historiker Norbert Frei lobt die kritische Neuausgabe von "Mein Kampf" - und spricht über die Faszination des Bösen.

Interview von Joachim Käppner

Am Freitag vergangener Woche hat das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) seine kritische Edition von Hitlers programmatischer Frühschrift "Mein Kampf" vorgestellt. Das in Millionen Exemplaren gedruckte Werk von 1924 war seit 1945 in Deutschland verboten, der Text ist seit Beginn dieses Jahres aus urheberrechtlichen Gründen aber frei. Wie IfZ-Leiter Andreas Wirsching sagte, habe man eine kritische kommentierte Neuausgabe deshalb für unausweichlich gehalten. Alles andere wäre "unverantwortlich" gewesen, da Hitlers Hassschrift sonst ohne jede Einordnung frei vagabundiert wäre. Im Vorfeld war es zu heftigen Debatten über das Projekt gekommen. Vor Freitag gab es keine Einsicht in das Buch des IfZ. Joachim Käppner sprach mit dem Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei (Autor von u. a. "Vergangenheitspolitik" und "Der Führerstaat") über seine ersten Eindrücke. Sie sind insgesamt positiv. Ganz leicht zu lesen sei das Buch aber nicht.

SZ: Herr Professor Frei, zwei Bände, 1966 Seiten, Tausende Anmerkungen: Ist es dem Institut für Zeitgeschichte tatsächlich gelungen, Hitlers Originaltext und das Böse, das aus diesem Text spricht, durch Kommentare und Erklärungen einzuhegen, gar zu "umzingeln", wie es der Projektleiter Christian Hartmann nennt?

Frei: Ja und nein. Auf der Faktenebene widerspricht die Edition Hitler tatsächlich auf eindrucksvolle Weise. Aber der Grundton des Buches, Hitlers rassistische Mentalität und seine Gewaltgesinnung, lassen sich nicht so einfach einzäunen. Ich halte die Edition aber insgesamt für gelungen - soweit man das an einem Wochenende übersehen kann. Es gibt ja Kollegen von Ihnen, die offenbar in der Lage sind, fast 2000 Seiten an einem Nachmittag zu lesen, um anderntags ein definitives Urteil abzugeben. Da kann ich nur sagen: Hut ab. Aber im Ernst: Durch die vielen, tiefschürfenden Anmerkungen ist es gelungen, Hitlers Originaltext aus dem Kontext heraus zu analysieren und zu historisieren.

Ihr Eindruck aus wissenschaftlicher Sicht ist also positiv?

Ja, auf jeden Fall. Die Edition ist eine große und wichtige Leistung. Sie erschließt Hitlers "Mein Kampf" gerade auch für die Zeit nach der Zeitgenossenschaft, wenn es also keine Stimmen mehr gibt, die das Buch noch in seiner Zeit gekannt und vielleicht sogar gelesen haben. Für künftige Generationen erläutert es grundlegend, wovon Hitler spricht, wo er lügt, was und wer ihn beeinflusst hat. Was mir nicht gefällt, ist die künstliche Verknappung der Auflage.

Installation in der Ausstellung "Hitler und die Deutschen" (2011): Sensationell Neues über den "Führer" erwarten die Historiker nicht mehr. (Foto: Stephanie Pilick/dpa)

4000 Exemplare wurden gedruckt, aber schon 15 000 vorbestellt.

Bei der gewaltigen Aufmerksamkeit, die das Projekt weltweit schon seit Monaten fand, hätte man damit eigentlich rechnen müssen.

Die Edition hält aber den Anspruch, für ein breites Publikum interessant zu sein?

Ganz sicher, und das ist gut so. Auch wenn ich bei manchen der Anmerkungen, die ich mittlerweile gelesen habe, dachte: Holt man hier im Detail nicht doch ein bisschen arg weit aus, nur um Hitler zu widersprechen?

Zum Beispiel?

Hitler schreibt, noch alle "großen historischen Lawinen" seien durch die "Zauberkraft des gesprochenen Wortes" ins Rollen gebracht worden - und zielt damit natürlich auf sich selbst als Redner. Die Herausgeber sagen nun: "Stimmt nicht" - und gehen in ihrem klugen Kommentar zurück bis zu Luther und dessen 95 Thesen. Ob das so ausführlich nötig ist, weiß ich nicht. Aber man wollte offenbar keine Lücke lassen.

Das Institut für Zeitgeschichte hat ja auch die diversen Ausgaben des Buchs textkritisch verglichen, um Veränderungen in seiner Denkweise zu dokumentieren.

Ja, und das Ergebnis ist doch frappierend: Über die Jahre sind ein paar orthografische Fehler, viele "nun" und manche anderen Füllwörter gestrichen worden, ansonsten hat sich der Text kaum verändert.

Offenbar muss man die wissenschaftlichen Mitarbeiter bemitleiden. Sie hatten für den Textvergleich all das scheußliche Zeug zu lesen und auszuwerten, nur um festzustellen: Immer dasselbe.

Norbert Frei, geboren 1955, gehört zu den bekanntesten deutschen Zeithistorikern und Kennern der NS-Zeit. Seit 2005 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena. (Foto: Universität Jena)

Ihr Problem war ja, dass es kein Typoskript gibt, mit dem sich die Druckfassung textkritisch vergleichen ließe. Aber wenn wir nun wissen, dass substanziell nichts verändert wurde in all den Jahren, dann ist das doch auch ein Ergebnis. Außerdem haben die Kollegen am Institut für Zeitgeschichte, wie man in der Einleitung erfährt, dazu ein eigenes computergestütztes Verfahren entwickelt, sodass sich die Torturen vielleicht doch in Grenzen hielten.

Erkennt man jetzt besser Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Buchs und der späteren Herrschaftspraxis? In "Mein Kampf" hat Hitler die Vernichtung der Sowjetunion und der Juden ja indirekt schon angedroht.

Die Anmerkungen machen deutlich, was aus den Ideen politisch entstanden ist. Das zielt auf den interessierten Leser, nicht auf die Fachwissenschaft. Für die Historiker ist seit Langem klar, und das haben die Herausgeber ebenfalls betont, dass man das 1924 verfasste Buch nicht einfach als Blaupause für Hitlers spätere Herrschaft betrachten darf. Die zeitgeschichtliche Erforschung etwa des Holocausts oder des Vernichtungskrieges im Osten nimmt natürlich Bezug auf Hitlers Grundideen und Obsessionen, fragt ansonsten aber nach dem historisch-politischen Prozess, in dem diese Gedanken wirksam werden konnten.

Skeptiker hatten ja befürchtet, ein solches Projekt könne einen "Hitler-Zentrismus" fördern, also den Blick auf Strukturen und Mittäter des NS-Regimes vernachlässigen.

Diese Gefahr sehe ich nicht. Mit der längst überfälligen kommentierten Ausgabe von "Mein Kampf" hat die kritische Edition der Reden, Schriften und Anordnungen Hitlers, mit der das IfZ ja schon in den 1980er-Jahren begonnen hatte, ihren Abschluss gefunden. Jetzt gibt es einen ebenso erstaunlichen wie sicherlich vorübergehenden Hype um das Buch, aber das wird unseren Blick ganz gewiss nicht wieder verengen - etwa zurück zu den Fünfzigerjahren, als der "Führer" und sein engstes Umfeld für alle Schrecken verantwortlich gemacht wurden und sich alle übrigen für unschuldig erklärten.

Hitler. Mein Kampf. Eine kritische Edition. Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel. Zwei Bände, 1966 Seiten. München 2016, 59 Euro. (Foto: Getty Images)

Dennoch gibt es immer neue Filme und Bücher über Hitler, die Faszination des Bösen für viele Menschen scheint zu bleiben. Gibt es da wirklich noch Neues über den Diktator zu erfahren?

Die Faszination hängt nicht an neuen Details. Aber tatsächlich scheint mir, neue Hitler-Biografien haben wir jetzt erst einmal genug. Natürlich kann man da hier und da Akzente anders setzen oder eine Perspektive betonen, die bisher vielleicht unterbelichtet war. Aber wer mit Blick auf die Biografie Hitlers heute noch Sensationen produzieren will, schafft das wohl nur um den Preis seiner Seriosität.

Wie hat sich das Bild Hitlers seit der großen Biografie des Publizisten Joachim Fest von 1973 verändert?

Fest stammte ja aus einem Haus, in dem Hitler abgelehnt wurde . .

. . . . was das für die Familie bedeutete - Ausgrenzung und Repression -, hat er in "Ich nicht" beschrieben.

Das erklärt wohl seinen bildungsbürgerlichen Zugriff und den arg stilisierten, mitunter sogar dünkelhaften Ton, in dem er Hitler und seine Gesinnungsgenossen schilderte. Dieses Bedürfnis, sich auch sprachlich so weit wie möglich von seinem Forschungsgegenstand zu distanzieren, ist heute viel geringer, weil es die Distanz ohnehin längst gibt.

Kann die neue Edition jungen Menschen helfen, die NS-Zeit besser zu erfassen? Für heutige Schüler erscheint sie ja unendlich fern.

Also, man wird wegen der neuen Edition den Geschichtsunterricht nicht neu erfinden müssen. Aber ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin kann damit arbeiten: Er oder sie kann zum Beispiel eine Passage aus dem Kapitel "Volk und Rasse" nehmen und anhand der Anmerkungen mit den Schülern analysieren, wie Hitlers Ideen entstanden sind und was aus ihnen wurde. Allerdings wird das auch eine praktische Herausforderung.

Warum das?

Nicht wegen der Inhalte, sondern wegen der Form. Methodik und Layout des Buchs sind so anspruchsvoll, dass sich der Leser erst einmal einfinden muss. Die Anordnung der Anmerkungen auf der linken und der unteren rechten Seite ist nicht immer leicht zu nachzuvollziehen, und die Lektüre der Textvarianten bedarf einiger Übung. Wenn man die Logik der Edition aber einmal verstanden hat, kann man damit gut arbeiten.

Abschließend: Das Buch war bis vor wenigen Wochen verboten. Was lässt sich heute wirklich lernen aus der Beschäftigung mit diesem "Konvolut der Unmenschlichkeit", wie es Andreas Wirsching nennt?

Das Buch durfte nicht gedruckt werden, aber wer es lesen wollte, konnte es immer lesen. Insofern glaube ich nicht, dass jetzt für die allgemeine Öffentlichkeit ein grundlegend anderer Zustand eingetreten ist. Und doch wird man sagen können: Wer heute in diese Edition schaut - kaum einer wird die Fülle an Informationen komplett aufnehmen -, der gewinnt vielleicht einen frischen Blick auf die Gefahren, die von populistischen, fremdenfeindlichen und rassistischen Bewegungen ausgehen: für unsere heutige Demokratie wie damals in der Weimarer Republik.

© SZ vom 12.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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