Erdoğan nach der Wahl in der Türkei:Keine Selbstkritik, keine Zweifel, keine Zukunft

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Der türkische Präsident Erdoğan spricht in Ankara bei einer Graduierungs-Zeremonie. (Foto: AFP)

Die Schadenfrohen und Hoffnungsvollen im Westen sollten sich nicht zu früh über die Wahlschlappe des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan freuen. Sollte seine AKP eine Koalition mit den Ultranationalisten eingehen, würde die Türkei um Jahre zurückgeworfen.

Kommentar von Mike Szymanski, Istanbul

Wer meinte, die Niederlage seiner AKP habe dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu denken gegeben, der wird enttäuscht. In seinem ersten Auftritt nach der Wahlschlappe ließ er die Schadenfrohen und Hoffnungsvollen im Westen, die in der Türkei bereits einen autoritären Herrscher heranwachsen sahen, wissen: Freut euch nicht zu früh! Solange man sich an ihm abarbeitet, habe er die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Von Selbstkritik keine Spur. Selbstzweifel? Sind bei diesem Mann nicht angelegt.

Innenpolitisch hat die Parlamentswahl Erdoğans Machthunger zwar gestoppt. Er wollte sich per Verfassungsänderung zum Superpräsidenten des Landes machen. Außenpolitisch ist er noch ganz der alte Raufbold. Wenn die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini aus der Wahl ableitet, die Beziehung zwischen Ankara und Brüssel würde jetzt besser, ist das Wunschdenken. Eher stellt sich die Frage, inwieweit der Schaden nicht bereits irreparabel ist.

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Ein EU-Beitritt war nie eine Herzensangelegenheit

Auf beiden Seiten brennt keine Leidenschaft mehr für einen Beitritt der Türkei zur EU. Daran ändern auch die neuen Machtverhältnisse im Land so schnell nichts. Europa hat gerade genug mit sich selbst zu tun, um die Euro-Zone zusammenzuhalten. Und Erdoğan hat seinen Bürgern in den vergangenen Jahren so heftig eingeredet, dass seine "neue Türkei" niemanden wirklich braucht, bis auch die letzte Glut ausgetreten war.

Für Erdoğan war ein EU-Beitritt nie eine Herzensangelegenheit. Er hat die Perspektive strategisch genutzt, um das Land innenpolitisch umzubauen und Gegner wie das Militär in ihrer Macht einzuschränken. Als das geschafft war, schaute er sich im Nahen Osten um, hofierte unter anderem die Hamas und versprach noch wenige Tage vor der Wahl, über Jerusalem die Fahne des Islams wehen zu lassen.

Erdoğan, der Eroberer, machte Außenpolitik mit dem Koran in der Hand. Er wollte die Türkei zur Führungsmacht der islamischen Welt machen. Neo-Osmanismus hieß das bald.

Außenpolitisch ist der Präsident der alte Raufbold geblieben

Daraus ist aber nichts geworden. In Israel, Ägypten und Syrien hat die Türkei schon keine Botschafter mehr. Erdoğan hat sein Land innerhalb nur weniger Jahren stattdessen in die Isolation geführt. Zuletzt war er sogar unfähig, die Konflikte im eigenen Land zu lösen. Die Chance zur Versöhnung mit den Kurden vergab er auf den letzten Metern des Wahlkampfes, als er plötzlich von einem Kurdenproblem nichts mehr wissen wollte.

Was das angeht, hat die Wahl keineswegs eindeutige Antworten gegeben: Zwar wird der Einzug der Kurdenpartei HDP ins Parlament als historischer Moment gefeiert, der den jungen Aufschwung kurdischer Politik im Nahen Osten fortschreibt. Übersehen wird dabei allerdings, dass es neben der HDP in der Türkei einen weiteren Wahlsieger gibt: Zulegen konnten auch die Ultranationalisten von der MHP, die versprochen hatten, die Verhandlungen mit den Kurden abzubrechen. Sie kamen auf 16 Prozent.

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Koaliert die AKP mit den Ultranationalisten, dürften unruhige Zeiten anbrechen

Sollte Erdoğans AKP, die jetzt einen Regierungspartner braucht, mit der MHP zusammengehen, dürften unruhige Zeiten im Land anbrechen. Nicht auszuschließen, dass die Gegner sogar den bewaffneten Kampf wieder aufnehmen. Überhaupt würde die MHP als Regierungspartei die Türkei um Jahre zurückwerfen - und nicht nur dieses Land. Auf Zypern, wo Türken und Griechen mit frischem Elan daran arbeiten die Spaltung der Insel zu überwinden, würden sich die Fronten sofort wieder verhärten, wenn in Ankara Ultranationalisten die Politik mitbestimmen.

Es bliebe noch ein Bündnis mit der CHP, der alten Atatürk-Partei. Sie wurde zweitstärkste Kraft. Sie machte mal Außenpolitik unter dem Motto: "Friede daheim, Friede in der Welt." Aber ohne Koran. Mit der AKP war das bisher nicht kompatibel.

© SZ vom 15.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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