Digitalisierung:Kulturrevolution in den Amtsstuben

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Viel Papier: Das Verkehrszentralregister im Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg. (Foto: Carsten Rehder/picture alliance / dpa)

Familienstand, Anzahl der Verkehrsverstöße, Steuerfreibeträge: Der Staat hat unzählige Informationen über seine Bürger. Doch diese lagern in 200 parallel existierenden Datenbanken, häufig noch auf Papier. Im Sinne einer digitalen Verwaltung soll das jetzt geändert, die Zettelwirtschaft beendet werden. Doch Datenschützer fürchten den gläsernen Bürger

Von Boris Herrmann, Berlin

Als Angela Merkel neulich in der Bundespressekonferenz über die Pandemie sprach, erlaubte sie sich auch eine Randbemerkung zur politischen Agenda jenseits des Seuchenschutzes. Das Onlinezugangsgesetz "und ähnliche Dinge, mit denen wir uns immer beschäftigen", werde in seiner Bedeutung "noch nicht so hundertprozentig" gewürdigt, sagte die Kanzlerin. Zwischen all den Corona-Themen ging der Versuch einer Würdigung aber nicht so hundertprozentig auf. Niemand fragte nach.

Das Onlinezugangsgesetz und ähnliche Dinge - damit kann die Kanzlerin nur die sogenannte Registermodernisierung gemeint haben. Denn das eine ist ohne das andere schwer denkbar. In beiden Fällen geht es darum, das Zeitalter der Zettelwirtschaft in bundesdeutschen Amtstuben zu beenden. Das wäre "eine Kulturrevolution", heißt es aus dem Kanzleramt. Und jetzt kann man natürlich sagen, dass eine Regierung, die eines ihrer zentralen Innovationsprojekte auf den Namen RegMoG tauft, sich auch nicht wundern muss, wenn sich dessen revolutionärer Geist nicht allen Bürgern auf Anhieb erschließt.

Die Steuererklärung - irgendwann so schnell wie eine Flugbuchung?

Irgendwann, wenn jetzt nichts mehr schiefgeht vielleicht schon in zehn Jahren, werden die Bundesbürger die segensreiche Wirkung des Registermodernisierungsgesetzes aber sehr konkret in ihrem Alltag spüren. Einem Gutachten des Nationalen Normenkontrollrats zufolge ließe sich damit fast die Hälfte der Zeit einsparen, die jeder Deutsche mit Verwaltungsangelegenheiten verbringt - mit Steuererklärungen, Anträgen für Kindergeld, Unternehmensgründungen. Das alles soll künftig so schnell und automatisch ablaufen wie eine Flugbuchung. Noch ist das eine realitätsferne Utopie.

Johannes Ludewig, der Vorsitzende des Normenkontrollrats mit Sitz im Bundeskanzleramt, war in seinem 75-jährigen Leben schon Bahnchef, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und Verwaltungsratsmitglied der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben. Er dürfte wissen, wovon er spricht, wenn er sagt: "Wie wir in deutschen Ämtern arbeiten und organisiert sind, das ist im Prinzip wie vor 100 Jahren."

Wobei Deutschland vor 100 oder vielleicht auch 150 Jahren im internationalen Vergleich deutlich besser dastand als aktuell. Ludewig kann sich da in Rage reden: "Die Preußen haben im 19. Jahrhundert einmal die moderne Verwaltung erfunden. Die ganze Welt ist nach Berlin gepilgert, um zu sehen, wie das geht. Wo sind diese Pilgerströme geblieben? Also ich habe noch keinen gesehen, der nach Berlin kam, um zu erfahren, wie eine moderne Verwaltung arbeitet." Immerhin: Diesen Donnertag befasst sich der Bundestag mit dem Gesetzesentwurf zur Registermodernisierung, der die öffentliche Verwaltung ins 21. Jahrhundert hieven soll.

"Wenn das jetzt nicht funktioniert, können wir einpacken"

Das Ausgangsproblem sind Unmengen von Daten, die der Staat von seinen Bürgern besitzt, auf die er in seinem Organisationschaos aber nicht zugreifen kann. Sie lagern in über 200 parallel existierenden Verwaltungsdatenbanken, in Melderegistern, Gewerberegistern und Ausländerzentralregistern, in Standesämtern und Finanzämtern, nicht selten noch in Schubladen und Hängeordnern. Dem RegMoG liegt die naheliegende Idee zugrunde, diese Informationen zu standardisieren und miteinander zu vernetzen. Wer etwa Bafög beantragen oder einen Wohnsitz ummelden möchte, müsste dann künftig nicht mehr jedes Mal aufs Neue seine Geburtsurkunde einreichen, weil der Staat dieses Dokument nicht nur eh schon hätte, sondern auch noch wüsste, wo es ist.

Eine solche Registerbereinigung gilt als Voraussetzung für alle weiteren Digitalisierungspläne der Bundesregierung, darunter das im Onlinezugangsgesetz geregelte Versprechen, bis 2022 ein Portal für alle Bürger- und Dienstleistungen bereitzustellen. Ludewig sagt: "Wenn das jetzt nicht funktioniert, dann können wir einpacken."

Ob es funktioniert, ist aber keineswegs ausgemacht. Der vorliegende Gesetzentwurf stößt auf massive Kritik, und zwar nicht nur bei der Opposition im Bundestag. Auch der Bundesrat, der Anfang März zustimmen muss, hat verfassungsrechtliche Bedenken. Wie so oft geht es um den Datenschutz.

Datenschützer fürchten ein mit einem Knopfdruck abrufbares Bürgerprofil

Virtuelle Behördengänge sind erst dann möglich, wenn der Staat jeden Antragsteller eindeutig erkennen und zuordnen kann. Dafür will die Koalition die Steueridentifikationsnummer zu einer einheitlichen Bürgernummer umfunktionieren. Die Steuer-ID wird einmalig an jeden hierzulande gemeldeten Menschen vergeben und ändert sich nie. Im Gegensatz zu Namen und Namensschreibweisen ist sie verwechslungssicher. Datenschützer befürchten aber, dass damit die technischen Voraussetzungen geschaffen werden für eine Profilbildung auf Knopfdruck über alle Register hinweg. Dies hat das Bundesverfassungsgericht klar untersagt.

Union und SPD glauben, genügend Vorkehrungen in ihr Gesetz eingebaut zu haben, um einen Missbrauch zu verhindern. So muss jeder Bürger dem neuen Verfahren explizit zustimmen und jeder, der zugestimmt hat, soll nachvollziehen können, welche Behörde welche Daten abfragt. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, eine ausgewiesene Datenschützerin, sagte der SZ: "Gläserne Bürgerinnen und Bürger wird es in Deutschland auch weiterhin nicht geben."

Die Koalition war sich bei diesem Projekt aber lange uneins. Auch deshalb kommt es erst zum Ende der Legislaturperiode allmählich in Gang. Nur auf Vermittlung der Kanzlerin soll der Knoten zwischen der drängelnden Union und der eher bremsenden SPD durchschlagen worden sein. Da mag auch die Pandemie dieser "nicht so hundertprozentig" gewürdigten Kulturrevolution geholfen haben. Angela Merkel weiß nur zu gut, was es heißt, ein vormodern verwaltetes Land zu regieren, in dem die Gesundheitsämter den Infektionsketten noch mit Faxen hinterherjagen.

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