Die Last der Grabrede:Reue auf Raten

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Vom Trauerfall zum Trauerspiel: In kürzester Zeit hat sich Oettinger selbst demontiert - am Ende führen alle Wege zum Rapport nach Berlin.

Bernd Dörries und Jens Schneider

Günther Oettinger erklärt also die Lage. Wie alles gekommen ist. Es ist Montagmorgen in der Stuttgarter Liederhalle, und der Ministerpräsident von Baden-Württemberg wartet mit EU-Kommissar Günther Verheugen auf den Beginn der europäische Handwerkerkonferenz, die beide eröffnen dürfen.

Sie stehen vor dem Podium und haben sich eigentlich nichts zu sagen, es ist aber für Oettinger ein Moment, der keinen schweigenden Ministerpräsident gebrauchen kann, kein starres Verlierergesicht.

Also erklärt er Verheugen die Geschichte des kleinen Kongresszentrums in der Stadtmitte, die Anbauten, die Sitzplätze. Es ist sicheres Terrain, auf dem er sich bewegt: Zahlen, Wirtschaft, Marktchancen, Mittelstand. Er sieht einigermaßen entspannt aus, es wird ihm kein Fehler passieren.

Oettinger ist jetzt seit zwei Jahren Ministerpräsident von Baden-Württemberg, er galt lange als Erneuerer und derjenige, der als erster mit den Grünen koalieren könnte. Das alles scheint lange her zu sein an diesem Morgen. Beim Betreten des Kongresszentrums muss Oettinger erklären, wie er Hans Filbinger, den früheren Ministerpräsident und Marinerichter in der Nazizeit, bei der Trauerfeier am vergangenen Mittwoch einen "Gegner des NS-Regimes" nennen konnte. Wie aus dem Modernisierer jemand wurde, den nun nicht wenige für einen Ewiggestrigen halten. Ein steiler Abstieg, und das innerhalb weniger Tage.

Verordnetes Schweigen

Äußerlich ist er unverändert. Vielleicht sind seine akkurat geschnittenen Haare ein bisschen länger als früher und das Grinsen, das er sonst so zuverlässig einschalten kann, klemmt ein bisschen. Vor der Liederhalle sagt er seine Sätze auf: Nein, er habe Hans Filbinger nicht zum Widerstandskämpfer machen wollen.

Nein, er habe seiner Entschuldigung vom Sonntag nichts hinzuzufügen, auch wenn dies manche forderten. Dann wird er noch gefragt, ob er nun wie geplant nach Rom fahre zum Geburtstag des Papstes - oder doch nach Berlin, um im Präsidium der CDU noch einmal die ganze Geschichte zu erklären. Die der letzten Tage und die von Hans Filbinger und der ganzen NS-Zeit, so wie er sie sieht. ,,Ich fahre jetzt ins Büro'', sagt Oettinger. Und dann? "Dann werden wir sehen."

Soll oder muss Oettinger seine Reise zum Papst absagen? Am höchst unterschiedlichen Umgang mit dieser Frage lässt sich an diesem Montag in Berlin ablesen, welcher Art Krisenmanagement verschiedene Lager in der CDU zuneigen. Da gibt es am Vormittag einzelne, die Oettingers Anwesenheit bei der Sitzung des höchsten Parteigremiums für absolut verzichtbar halten.

Es gebe einfach Situationen, da darf einer nicht fehlen. Hoffentlich würde er das verstehen. Von den meisten freilich ist den Vormittag über zu hören, dass ja wohl schon die Vorstellung abwegig sei, Oettinger könne einen Besuch beim Papst wegen einer Geschichte absagen, die doch spätestens mit seiner Entschuldigung erledigt wäre. Unvorstellbar! Die Sache sei durch! Das ist so lange zu hören, bis am frühen Nachmittag bekannt wird, dass Oettingers Weg nicht nach Rom führt, sondern nach Berlin.

Dabei haben sich fast alle seiner prominenten Parteifreunde öffentliches Schweigen verordnet. Im Kreis der Kollegen Ministerpräsidenten ist man sich freilich weitgehend einig, dass Oettinger einen Fehler gemacht hat. Haarsträubend, da müsse man gar nicht drüber reden, heißt es gar aus dem Umkreis einzelner Parteigranden. Und so scheint es auch keinen besonders zu irritieren, wie schnell und deftig die Parteichefin Angela Merkel den Regierungschef aus dem Südwesten öffentlich gerügt hat.

Merkels schnelle Reaktion war für sie ungewöhnlich. Sonst ist sie bekannt dafür, gern lange zu beobachten, welche Richtung eine Diskussion nimmt. Noch vor fast vier Jahren in der Affäre um den Rechtsausleger in der Fraktion Martin Hohmann hat Merkel lange zugewartet, bevor sie einen klaren Schnitt forderte. Die Diskussion belastete die Union über Wochen.

"Wichtiger, aber auch notwendiger Schritt"

Jetzt habe sie eine wochenlange Diskussion vermeiden müssen, heißt es aus der Parteispitze. Es ging darum, so hört man aus ihrem Umfeld, Schaden von der Partei abzuwenden.

Das klingt ernst und entschlossen, und mit eben dieser Entschlossenheit wiederholt Merkel am Nachmittag vor der CDU-Zentrale ihre Kritik an Oettinger, bevor die Präsidiumssitzung beginnt. Wenn man über die Zeit des Nationalsozialismus spreche, müsse man die Perspektive der Opfer und Verfolgten im Blick haben, sagt sie.

Aber sie fordert auch ein Ende der Debatte. Oettinger habe mit seiner Entschuldigung einen wichtigen, aber auch notwendigen Schritt'' getan, sagt sie: ,,Ich erwarte, dass diese Entschuldigung auch gehört wird.''Bis zu dieser Sitzung zumindest geht ihr Kalkül auf, durch das frühe Eingreifen ein Für und Wider um Oettingers Rede zu verhindern.

Es fällt zwar auf, dass einzelne Konservative wie Bundestagsfraktionschef Volker Kauder, der aus dem Ländle kommt und von dem man ein klares Wort erwartet, sich jeder Äußerung enthalten. Kauder kritisiert Oettinger nicht, stellt sich aber auch nicht hinter ihn.

Und so steht Kauders Vertrauter Georg Brunnhuber, der Chef der CDU-Landesgruppe aus Baden-Württemberg, in der Hauptstadt recht allein da. Der hatte Oettingers Trauerrede am Wochenende als "Meisterprüfung" gelobt. Oettinger habe damit für die Anhängerschaft der CDU einen ganz, ganz großen Schritt getan.

Da konnte Brunnhuber freilich nicht wissen, dass Oettinger sich am Montagnachmittag von seinem angeblichen Meisterstück selbst abwenden würde. "Ich halte meine Formulierung nicht aufrecht, sondern ich distanziere mich davon", sagte er bei der Ankunft am Konrad-Adenauer-Haus und nahm damit Abschied von der Ansicht, dass sein verstorbener Amtsvorgänger Filbinger ein Gegner des NS-Regimes gewesen sei. Damit wollte er die Sache als erledigt ansehen. Es war die letzte von vielen Etappen auf einem langem Bußgang, der sich über Tage hinzog.

Suche nach dem Motiv

Georg Brunnhuber, der sich so deutlich wie kein andere an Oettingers Seite gestellt hatte, war am Wochenende schon vielfach als Kronzeuge für eine große Begeisterung herangezogen worden, die angeblich in der Südwest-CDU über Oettingers Worte herrschte. Als Beleg dafür, dass der Ministerpräsident gezielt den rechten Rand der Partei bedienen wollte. Ganz so einfach liegen die Dinge allerdings nicht. Die Sache ist banaler und komplizierter zugleich.

Schon kurz nach der Rede bei der Trauerfeier in Freiburg hat die Partei in Baden-Württemberg mit der Ausforschung von Oettingers Motivlage begonnen. So richtig verstehen tut es niemand. ,,Das war völlig unnötig'', sagt ein Minister, der sich auch fragt, worauf Oettinger eigentlich hinauswollte. Zur Erklärung des Rätsels gibt es in der Partei mittlerweile eine Reihe verschiedener Denkschulen.

Als Hans Filbinger am 1. April starb, befanden sich die Mitglieder der Partei mehrheitlich in den Osterferien. Oettinger verfasste eine kurze Würdigung: zwölf Jahre Ministerpräsident, große Verdienste bei der Gebietsreform und im Hochschulwesen. Der Rest schwieg, es war fast schon gespenstisch, wie die Partei den Tod ihres Ehrenvorsitzenden ignorierte, und es wirkte wie ein Zeichnen dafür, dass seine wenigen verbliebenen Anhänger nicht mehr dran glaubten, ihn endgültig rehabilitieren zu können. "Man dachte eigentlich, er würde jetzt wenigstens ohne Diskussionen beerdigt werden", sagt einer aus der Partei.

Doch dann kam der Historiker Hans Mommsen, der es bemängelte, dass Oettinger seine Filbinger-Würdigung erst im Jahr 1958 begonnen hatte und die Nazizeit mit keinem Wort erwähnte. ,,Feigheit'' nannte er das. Oettinger wollte aber nicht feige sein, sagen manche aus seiner Umgebung.

Das Münster zu Freiburg war am vergangenen Mittwoch zur Trauerfeier nicht einmal ganz gefüllt, auf dem Platz davor hatten sich ein paar Gegendemonstranten versammelten. Alles wirkte irgendwie halbherzig, pflichtgemäß. Drinnen las Günther Oettinger die Worte: "Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes."

Der Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann sagte hinterher, er habe sich fast wie auf der Beerdigung eines Widerstandskämpfers gefühlt. Vom Zentralrat der Juden kam die erste Kritik. Oettinger aber reiste direkt nach der Beerdigung mit der Familie für zwei Tage in den Europapark Rust. Er war sich keiner Schuld bewusst.

Der zweite Denkschule betrifft die Geschichte der CDU in Baden-Württemberg. Filbinger hat sie hier zu einer Art Staatspartei gemacht, die mittlerweile die Rolle der Opposition gleich mit erledigt. Seit Filbinger ist keiner ihrer Ministerpräsidenten aus freien Stücken aus dem Amt geschieden, auch die eigene Partei hat immer mitgeholfen.

Das hat Wunden hinterlassen: Auch Oettinger wurde schon Königsmörder genannt, dabei ist er eher ein Harmonisierer. Vor einiger Zeit rief er seine drei noch lebenden Vorgänger zusammen, zu einem Erfahrungsaustausch: Hans Filbinger, Lothar Späth, Erwin Teufel. Zum Schluss gab es ein schönes Gruppe Gruppenfoto. Die Familie der CDU wieder glücklich vereint. Die Angehörigen Filbingers besuchte er nach dessen Tode zu Hause. "Das hat ihn bedrückt, vielleicht auch zu sehr vereinnahmt", sagt einer aus der CDU.

,,Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte'' - dieser Satz ist direkt kopiert von der Homepage des Verstorbenen. Am Donnerstag sagte Oettinger im Europapark: ,,Meine Rede war öffentlich, ernst gemeint, und die bleibt so stehen''. Es erschien so, als wolle er kämpfen. Wahrscheinlich wusste er einfach nicht, was er tat.

Die üblichen Verdächtigen

Am Freitagvormittag war man in seinem Staatsministerium eigentlich der festen Überzeugung, die Sache sei ausgestanden. Dann meldete sich Angela Merkel aus dem Urlaub und behauptete das Gegenteil. Es war jetzt eigentlich schon klar, dass die Affäre mit neuem Schwung in das Wochenende gehen würde. Noch am Freitagabend fragten Menschen aus dem engsten Umkreis von Oettinger besorgt, ob er sich denn öffentlich äußern solle. Und wenn ja, wie? Es blieb aber alles still. Sein Regierungssprecher kam aus dem Urlaub herbeigeeilt.

Am Samstag kam Oettinger nicht mehr daran vorbei, sich irgendwie zu Wort zu melden. Seine Worte waren mittlerweile schon ins Englische übersetzt und auf dem Weg in ferne Länder. Er schrieb einen Offenen Brief - und machte alles nur noch schlimmer. Er bedauerte Dinge, die ihm gar nicht vorgeworfen wurden, die Relativierung der Nazi-Zeit.

Die umstrittenen Äußerungen ließ er stehen. Am Sonntag forderte der Zentralrat der Juden seinen Rücktritt, SPD-Chef Kurt Beck schaltete sich ein. Die Sache drohte außer Kontrolle zu geraten. Von Merkel kein Hinweis, dass ihr der Offene Brief genüge. Oettinger machte einen neuen Anlauf: Am Rande einer Festveranstaltung relativierte er Filbingers Rolle ebenso wie seinen Brief. Filbinger sei kein Widerstandkämpfer gewesen. Das sei seine aktuelle Ansicht.

Am Sonntagabend telefonierten seine Leute umher und horchten, wie die vorsichtige Neuerfindung aufgenommen wurde. ,,Das war doch eine Entschuldigung, so kann man das doch interpretieren'', sagt einer. Aber es ging nicht mehr ums Interpretieren. Es ging um das eine Wort: Entschuldigung. Am späten Abend sagte Oettinger es der Bild-Zeitung, nachdem absehbar war, dass es am Montag auf den Sitzungen der Parteien neuen Ärger geben würde. Wohl auch von der Bundeskanzlerin.

Man kann das alles so nachzeichnen, wie es passierte und vielleicht auch warum. Aber es bleibt doch rätselhaft, wie aus einem Ministerpräsidenten, der einst als Modernisierer galt, einer werden konnte der manchen als Ewiggestriger gilt. Der über Tage hinweg nicht wusste, was er tun und sagen soll und sich am Ende selbst demontierte. Einer aus der CDU sagt, Oettinger müsse jetzt wieder bei Null anfangen.

© SZ vom 17.04.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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