Deutschland:"Wir sehen noch viel Luft nach oben"

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Christiane Reckmann, 69, ist Mitgründerin und Vorsitzende des Zukunftsforums Familie. Bis zu ihrer Pensionierung war sie als Dezernentin im niedersächsischen Landesjugendamt für Kindertagesstätten zuständig. (Foto: Kai Doering/Zff)

Die Familien-Lobbyistin Christiane Reckmann hält es für ungerecht, wie der Staat Kinder derzeit fördert.

Interview von Ann-Kathrin Eckardt

Hinter dem Fragezeichen prangt ein Ausrufezeichen: "Fifty, Fifty?!" lautet der Titel eines Positionspapiers, das das Zukunftsforum Familie (ZFF) an diesem Freitag veröffentlicht. Es enthält 23 Forderungen für eine zeitgemäßere und partnerschaftlichere Familienpolitik. 2002 auf Initiative der Arbeiterwohlfahrt gegründet, tritt das ZFF für eine Politik ein, die neben Vater-Mutter-Kind auch andere Familienformen fördert.

SZ: Frau Reckmann, das UN-Kinderhilfswerk Unicef hat staatliche Familienfreundlichkeit in 31 Ländern untersucht. Deutschland landet in der Rangliste auf Platz sechs. Überrascht Sie das?

Christiane Reckmann: Die deutsche Familienpolitik hat sich in den letzten 15 Jahren mit dem Ausbau der Kinderbetreuung und dem Elterngeld auf den Weg zu mehr Familienfreundlichkeit gemacht, gerade im Sinne der Vereinbarkeit mit einem Beruf. Das zahlt sich jetzt aus. Aber wir sehen noch viel Luft nach oben.

Wie sehr hat sich der Familienbegriff in Deutschland in dieser Zeit verändert?

Sehr stark! Vor allem in der gesellschaftlichen Realität. Verheiratete, heterosexuelle Paare mit Kindern bilden mit 68 Prozent zwar nach wie vor die häufigste Familienform. Doch die Zahl sinkt. 1996 waren es noch 81 Prozent. Andere Konstellationen nehmen zu, etwa nichteheliche Lebensgemeinschaften oder Alleinerziehende. Letztere machen heute 20 Prozent der Familien aus. Leider hinkt die Politik der Realität in vielen Bereichen noch hinterher und setzt sehr unterschiedliche Maßstäbe an.

Zum Beispiel?

Im Sozialsystem geht der Staat davon aus, dass alle Menschen arbeiten können. Bevor eine alleinstehende Mutter eine Leistung bekommt, wird gefragt: Kann die nicht arbeiten? Eine verheiratete Mutter, deren Kind in die Schule geht und keinen Hortplatz bekommt, kann dagegen gern zu Hause bleiben. Viele Gesetze passen einfach nicht mehr in unsere heutige Zeit.

Sie meinen das Ehegattensplitting?

Ja. Oder die Mitversicherung von Ehepartnern in der gesetzlichen Krankenversicherung. Beides sind Relikte aus der Zeit der Alleinverdiener-Ehe. Beides belohnt Einkommensunterschiede.

Warum fördert der Staat auf der anderen Seite beim Elterngeld mit den Partnermonaten dann die Partnerschaftlichkeit?

Das ist total widersprüchlich! Außerdem müssten die Partnermonate dringend ausgeweitet werden zum Beispiel nach isländischem Vorbild: Jedem Elternteil steht dort ein Drittel der Elterngeldmonate zu, ein Drittel ist frei einteilbar.

Immer mehr Väter nehmen Elternzeit, die meisten von ihnen jedoch nur die Mindestdauer von zwei Monaten. Woran liegt das?

Wunsch und Wirklichkeit fallen da weit auseinander. In Umfragen sagen 60 Prozent der Eltern mit Kindern unter drei, dass sie sich eine gleichmäßige Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit wünschen. Aber nur sehr wenige setzen diese Wunschvorstellung auch um. Ein großes Problem sind nach wie vor die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen. Wer mehr verdient, arbeitet weiter. Außerdem herrscht in vielen Firmen noch eine Kultur, die es Männern besonders auf Führungsebene aber auch in geringer qualifizierten Jobs schwer macht, zugunsten der Familie berufliche Auszeiten zu nehmen oder flexibler zu arbeiten.

Das ZFF fordert auch eine Vaterschaftsfreistellung nach der Geburt.

Warum sollen Väter heute nicht auch die ersten Tage nach der Geburt bei ihrem Kind bleiben dürfen? Wir wissen inzwischen, dass sich in den ersten Tagen und Wochen viel darüber entscheidet, wie Aufgaben in einer Familie aufgeteilt werden. Gewohnheiten schleifen sich schnell ein.

Frauen leisten in Deutschland jeden Tag 87 Minuten mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Was würde wirklich helfen, um da endlich mehr Ausgleich zwischen Männern und Frauen zu schaffen?

Zum Beispiel die Einführung einer Familienarbeitszeit. Das Modell sieht einen teilweisen Lohnersatz für Eltern vor, wenn beide ihre Arbeitszeit wegen der Kinderbetreuung reduzieren. Man könnte es auch auf pflegende Angehörige ausweiten, wenn sie sich die Pflege aufteilen. Wir müssen dringend mehr Anreize schaffen, damit Männer stärker in die Pflege von Angehörigen einsteigen.

In Ihrem Positionspapier prangern Sie die jetzige staatliche Förderung von Kindern als ungerecht an. Was läuft da falsch?

In Deutschland ist der Gedanke "Leistung muss sich lohnen" sehr stark ausgeprägt, das zeigt sich schon bei den Kleinsten. Der Staat fördert Kinder aus wohlhabenden Familien stärker als die aus ärmeren Familien. Bei Sozialhilfeempfängern legt er zum Beispiel für Bildung und Teilhabe 19 Euro pro Kind und Monat zugrunde. Vielverdiener können 220 Euro pro Kind steuerlich geltend machen. Das müssen wir endlich umkehren. Jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Wir fordern schon seit langem eine Kindergrundsicherung, die viele bisherigen Leistungen bündelt und abhängig vom Einkommen der Eltern zwischen 300 und 628 Euro im Monat beträgt.

Wie soll das finanziert werden?

Durch die Abschaffung des Ehegattensplittings. Allerdings wird das allein nicht reichen.

© SZ vom 14.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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