Die Wege des Westens sind verschlungen. Der säkulare Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, Volkssouveränität und Menschenrechten lässt sich bis zum mosaischen Monotheismus und der christlichen Trennung von irdischer und göttlicher Obrigkeit zurückverfolgen, so jedenfalls stellt es Heinrich August Winkler in seiner monumentalen "Geschichte des Westens" dar.
Doch zu den konkreten Ausgestaltungen haben in viel späteren Jahrhunderten fast alle europäischen Nationen beigetragen. Es war deren Vielfalt, die schiere Existenz des Staatenpluralismus in der europäischen Neuzeit, die ein großes Experimentierfeld für Verfassungen eröffnete.
Um aus der Fülle der Sonderwege allgemeine Rezepte der Staatsklugheit zu entwickeln, waren die Blicke der Nachbarn hilfreich, die den Verhältnissen in fremden Ländern Begriffe und Lehren für neue Anwendungen entnahmen.
Neue politische Ideen aus England
So entdeckte der Franzose Voltaire auf seiner Englandreise 1726 bis 1728 zwei zukunftsträchtige Erscheinungen, die für Frankreich unerhört waren: einen wirtschaftlich tätigen Hochadel und den religiösen Multikulturalismus.
Unternehmerische Leistung lässt den Reichtum der Aristokratie nützlich für die gesamte Gesellschaft werden, berichtete Voltaire dem französischen Publikum in seinen "Briefen aus England". Wichtiger noch war die Anwesenheit vieler Glaubensrichtungen, die England vom exklusiv katholischen Frankreich unterschied: "Wenn in England nur eine Religion herrschte, so würde die unumschränkte Gewalt zu fürchten sein; wären es ihrer zwei, so würden sie sich einander die Kehle durchschneiden; sie sind aber wohl an die dreißig und leben alle friedlich und glücklich."
Kapitalismus und religiöse Gewaltenteilung gegen Ständestaat und Monokultur, das war Voltaires englische Botschaft. Viel weniger bekannt ist, dass ein zweiter großer französischer Schriftsteller zur selben Zeit aus Deutschland eine andere, damit aber gut vereinbare Lehre zurückbrachte, die Idee des Föderalismus.
Montesquieus Deutschland als Vorbild für die Gründung der USA
Als Voltaire aus England heimkehrte, brach Charles-Louis de Montesquieu nach Deutschland und Italien auf. Was er in Deutschland beobachtete, war nicht nur ein originelles Völkchen mit sonderbaren Gebräuchen (in Bayern beispielsweise trugen die Frauen kurze Röcke und Hüte wie die Männer), sondern vor allem ein Staatswesen, das aus vielen Staaten zusammengesetzt ist, in seinen Worten: la république fédérative d'Allemagne, zu deutsch "die Bundesrepublik Deutschland".
So nennt Montesquieu das Heilige Römische Reich im neunten Buch des "Geists der Gesetze", jener Grundschrift des modernen Verfassungsstaats, in der das Prinzip der Gewaltenteilung am schlüssigsten definiert wurde. Und genau dieser Passus spielte dann eine Generation später eine wichtige Rolle, als es darum ging, in den "Vereinigten Staaten von Amerika" eine Republik aus Republiken, einen Bundesstaat aufzubauen. In der großen Diskussion ihrer "Federalist Papers" beriefen sich Alexander Hamilton und James Madison auf die dem deutschen Reich gewidmeten Abschnitte von Montesquieus Traktat.
Denn der horizontalen Teilung der drei Gewalten Gesetzgebung, Gesetzesvollzug und Rechtsprechung sollte in der jungen Republik auch die vertikale Trennung in Teilstaaten zu Hilfe kommen - würde nämlich, so die amerikanischen Gründerväter, in einem Staat Tyrannis oder Pöbelherrschaft die Freiheit bedrohen, dann könnten die anderen eingreifen, um Schlimmeres zu verhüten.
Montesquieus amüsante Reisetagebücher
Der Weg von Deutschland über Montesquieu nach Amerika ist wenig bekannt, vor allem nicht bei Historikern, die Deutschland pauschal den allzu späten Eintritt in die "politische Kultur des Westens" vorwerfen. Er kann nun in einer Erstübersetzung von Teilen der Montesquieuschen Reisetagebücher und Briefe aus den Jahren 1728 und 1729 nachgegangen werden, der man allenfalls vorhalten kann, dass sie darauf verzichtet, die nur mäßig langen einschlägigen Passagen aus dem "Geist der Gesetze" und den "Federalist Papers" gleich mitabzudrucken.
Die elegant übersetzte Auswahl ist eine amüsante Lektüre. Spaß macht Montesquieus aphoristische, dabei nie respektlose Ironie: Der Herzog von Braunschweig "ist 67 oder 68 Jahre alt, aber er sieht jünger als zwanzig aus. Er ist von überraschender Höflichkeit und Leutseligkeit. Er lebt auf ziemlich großem Fuß. Er hat ein goldenes Service. Er lässt ein Schloss bauen, das nicht hässlich sein wird."
Gespür für Unheil aus Preußen
Von solchen Vignetten sind diese Berichte voll. Bewundernswert aber ist das Gespür des französischen Aristokraten für ein Unheil, das sich in der Nordostecke des verschachtelten Reichs anbahnt: Dort regieren sonderbare, cholerische Monarchen, die sich wie Grenadiere fühlen und deren einzige Freude im Besitz übergroßer Soldaten besteht, der König von Preußen und sein Kumpel, der Fürst von Anhalt.
In seiner Ahnung, dass dies zu nichts Gutem führen könne, erweist sich Montesquieu als Diagnostiker der Zusammenhänge von innerer Verfassung und äußerem Staatengleichgewicht: Es war Preußen, das die alte "Bundesrepublik Deutschland" langfristig zerstören sollte. Und das europäische Verfassungskonzert wurde fünfzig Jahre später unterbrochen, als der französische Sonderweg der Revolution mit brutaler Gewalt nach Deutschland getragen wurde. Aber da war der kluge Montesquieu längst tot.
Charles-Louis de Montesquieu: Meine Reisen in Deutschland 1728-1729. Ausgewählt und eingeleitet von Jürgen Overhoff. Aus dem Französischen von Hans W. Schumacher. Mit einem Nachwort von Vanessa de Senarclens. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 216 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.