Als Angela Merkel am Freitag zum Abschluss des EU-Gipfels vor die Presse trat, muss sie es schon gewusst haben. Nur anmerken ließ sie sich nichts. Sie freue sich, sagte die Bundeskanzlerin, dass Michail Chodorkowskij "die Möglichkeit hat, in Freiheit zu kommen". Kein Wort davon, dass diese Freiheit für den Russen erst einmal in Deutschland liegt. Gut sei es, dass ein Fenster der Gelegenheit genutzt worden sei, sagte sie noch. Erst im Nachhinein wurde klar, dass die Bundesregierung - unter größter Geheimhaltung - daran beteiligt gewesen ist, dieses Fenster der Gelegenheit mithilfe von Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu öffnen.
Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass nun der berühmteste Gefangene des Wladimir Putin gen Deutschland entlassen wurde. Jahrelang hatten sich die Kanzlerin und ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen - zum Teil auch öffentlich - darum bemüht, die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko freizubekommen, damit in Berlin ihr Rückenleiden behandelt werden kann. Mit dem geplatzten ukrainisch-europäischen Assoziierungsabkommen ist das Projekt kürzlich erst einmal gescheitert. Dass stattdessen Chodorkowskij nach Deutschland kommen könnte, damit hatte niemand gerechnet.
Es sei richtig gewesen, Chodorkowskij "nicht zu vergessen", sagte Merkel in Brüssel. Sowohl die Kanzlerin als auch andere deutsche Politiker haben in den vergangenen Jahren immer wieder auf das Schicksal des früheren russischen Oligarchen hingewiesen. Immer wieder hatte auch der Bundestag sich für Chodorkowskij eingesetzt, zuletzt in einer Entschließung, in der es um die Zukunft der Partnerschaft mit Russland ging. Deutsche Politiker appellierten wiederholt an Putin, Chodorkowskij freizulassen. Vor ihrer Zeit als Bundesjustizministerin hatte die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Berichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sich um den Fall gekümmert.
Besonders engagiert waren auch der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Andreas Schockenhoff (CDU), und die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck. Die Nachricht von der Freilassung erfülle sie "mit großer Freude", erklärte sie nun. "Sie kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland von einem Rechtsstaat so weit entfernt ist wie vor der Amnestie." Es werde weiterhin Streitpunkte mit Russland geben, stellte in Brüssel auch die Kanzlerin klar.
Für eines der umstrittensten Felder der deutschen Außenpolitik aber bedeutet die Freilassung Chodorkowskijs eine überraschende Wendung . Zuletzt war immer wieder darüber diskutiert worden, ob die relativ offene Kritik Merkels an Bürgerrechtsverletzungen in Russland den traditionell guten Zugang der Deutschen zum Kreml versperrt haben könnte. Merkel hatte auf eine zweite Amtszeit des liberaleren Präsidenten Dmitrij Medwedjew gesetzt und nach Putins Rückkehr in den Kreml einen schwierigen Start mit dem neuen alten Präsidenten. Bei einer Begegnung in Moskau im vergangenen Jahr sprach sie öffentlich das Schicksal der Aktivistinnen von Pussy Riot an - sehr zum Missvergnügen Putins. Im Hintergrund liefen da schon die Bemühungen um die Freilassung Chodorkowskijs.