Deutsche Einheit:Der Lohn der Vetternwirtschaft

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Zähe Verhandler: Lothar de Maizière, Günther Krause, Wolfgang Schäuble, Thomas de Maizière. (Foto: Britta Pedersen/dpa)

Ein de Maizière kam aus dem Osten, einer aus dem Westen: Zwei Verwandte prägten vor 25 Jahren den Einigungsvertrag. Ohne Konflikte ging das nicht.

Von Jens Schneider, Berlin

Die Idee war außergewöhnlich, aber es waren außergewöhnliche Zeiten. Ein Vierteljahrhundert später bedauert keiner der Beteiligten, dass sich der Vorschlag nicht durchsetzte. Als die Verhandlungen über den deutschen Einigungsvertrag im Sommer vor 25 Jahren begannen, sei vorher eine Liste von Vorschlägen für die Regierung der DDR aufgeschrieben worden, erinnert sich Günther Krause. Auf dieser Liste habe auch der Wunsch gestanden, dass für das vereinte Deutschland die erste Strophe der DDR-Nationalhymne an die der Bundesrepublik angehängt werden solle. Krause erzählt das grinsend, er war damals Staatssekretär in der letzten Regierung der DDR. Krause handelte den Einigungsvertrag aus. Sein Gegenüber war Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister. Und der stellt heute heiter fest, dass sich die Regierung der DDR "musikalisch nicht durchgesetzt hat".

Krause und Schäuble waren es, die vor 25 Jahren den Einigungsvertrag nach intensiven Verhandlungen am 31. August im Roten Saal des Berliner Kronprinzenpalais in Berlin unterzeichneten. Er besiegelte das Ende der deutschen Teilung. An Montagnachmittag zogen sie Bilanz für ein epochales Werk, das in wenigen Wochen entstand, unter großem Zeitdruck. Der heutige Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte zur Festveranstaltung an denselben Ort eingeladen, auch er war damals beteiligt, als Berater seines Vetters Lothar, dem letzten DDR-Ministerpräsidenten.

Es sei eine "richtig kleine Vetternwirtschaft" gewesen, amüsiert er sich über das Zusammenspiel der beiden. Er war im Westen aufgewachsen, sein Vetter im Osten, die Familie aber eng verbunden, und nun unterstützte er den vertrauten Vetter auf Seiten der DDR. "Wir kämpften um die Herbeiführung der deutschen Einheit auf Augenhöhe", sagt Thomas de Maizière, "obwohl es keine richtige Augenhöhe gab."

Damals mussten sich zwei Verhandlungspartner einigen, "von denen der eine nicht mehr existieren würde". Die DDR brach in sich zusammen. Wenn man die Erinnerungen der "Neunundachtziger" hört, entsteht der Eindruck, dass es vielleicht ein Vorteil war, was ihnen damals ungeheuren Stress bereitete. Sie hatten keine Zeit.

Das bedeutete zugleich, dass sie entscheiden mussten. Monat für Monat siedelten immer mehr DDR-Bürger in den Westen über. In der DDR-Volkskammer drangen Abgeordnete darauf, schnell den Beitritt zur Bundesrepublik zu beschließen, schneller als geplant. Am 17. Juni stand das chaotisch eigenwillige Parlament einmal ganz kurz vor dem Beschluss. "Aus meiner Sicht konnten wir den Flüchtlingsstrom nur eindämmen, indem wir ein Licht am Ende des Tunnels eingeschaltet haben", sagt Günther Krause. "Wir hatten eine ähnliche Flüchtlingssituation wie heute."

Kann man Geschichte rückabwickeln? An dieser Frage wäre der Vertrag fast gescheitert

Der eilig geschmiedete Vertrag wäre dabei, so schildert es Thomas de Maizière, fast gescheitert. Die Unterhändler rieben sich an Streitfragen, deren Lösungen lange nachwirken sollten, den Einigungsprozess vielleicht auch belasteten. Bis in die letzte Minute schwierig sei die Einigung über die Regelung zur Abtreibung gewesen, der Umgang mit den Stasi-Akten, und die Eigentumsfrage - die Frage also, wie man mit den Ansprüchen von Menschen umgehen sollte, die ihren Grundbesitz in der DDR durch Enteignung verloren hatten. "Die Kernfrage war: Kann man eigentlich Geschichte rückabwickeln?"

Und wie komplett sollten Regeln und Gesetze des Westens auf den Osten übertragen werden? Krause und auch Schäuble erinnern sich, dass ihr Ziel eigentlich gewesen sei, nur das einheitlich zu machen, was notwendig war. Es hätte möglich sein sollen, so sagt Krause an diesem Nachmittag, dass ein Ost-Beamter die Regeln verstehen und umsetzen kann, "ohne dass Buschzulage für einen Westbeamten" gezahlt werden müsste. Sie seien damals in einer Minderheitsposition gewesen, erinnert sich Schäuble. Krause sagt, die Sache habe sich gedreht, als er im Urlaub gewesen sei, eine Woche nur, und da wäre das nicht mehr rückgängig zu machen gewesen.

Letztlich ziehen alle eine positive Bilanz. Eine "unterschätzte Großtat" nennt Thomas de Maizière den Vertrag. Keiner will sich dabei allzu lange mit dem Gedanken befassen, dass damals die Chance verpasst worden sei, dem geeinten Deutschland nach einer gründlichen Debatte eine neue Verfassung zu geben. Es sind andere Entscheidungen, die an diesem Tag als Fehler erinnert werden: So hätten sich die West-Länder geweigert, die Berufsabschlüsse der DDR voll anzuerkennen, erinnert sich Thomas de Maizière. Millionen Ostdeutschen sei damit gesagt worden: Wir prüfen euch erst mal! "Das war nicht in Ordnung. Es hat Wunden geschlagen."

Der heutige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble kommt in diesem Gespräch häufig darauf zu sprechen, wie stark die Beharrungskräfte im Westen damals waren, und wie viel die Tagespolitik in einer historischen Situation doch bestimmt. "Wenn mal wieder so was kommt", sagt er grinsend, "ist meine dringende Bitte, dass man es nicht in einem Wahljahr macht." Es sei furchtbar gewesen, wie die Parteien mit Blick auf die Wahlen taktierten. Unverständlich bleibt für ihn, wie sie damals mit den westdeutschen Ländern Stunden lang darum ringen mussten, weil Berlin Hauptstadt und Regierungssitz werden sollte. Der Widerstand vor allem aus Nordrhein-Westfalen, wo in Bonn bis dahin Bundestag und Bundesregierung saßen, sei enorm gewesen, als hätte es die Bekenntnisse zur deutschen Einheit in vier Jahrzehnten der Teilung nicht gegeben. Wenn er darauf zurückblickt, klingt Schäuble auch ein Vierteljahrhundert danach erbost - wo doch der Wunsch, an Bonn festzuhalten, heute so absurd erscheint wie die Idee, ein Stück DDR-Hymne in die Einheit zu retten.

© SZ vom 01.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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