"Der Hexenprozess von Memmingen":156 Frauen vor Gericht

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Der Angeklagte Horst Theissen (rechts) mit seinem Anwalt Wolfgang Kreuzer 1989 im Gerichtssaal des Landgerichts Memmingen. (Foto: dpa)

In einem aus heutiger Sicht mittelalterlich erscheinenden Prozess ging ein Gericht in Memmingen hart gegen den Frauenarzt Horst Theissen vor. Es war auch eine heuchlerische Abrechnung Bayerns mit dem bundesweit gelockerten Abtreibungsrecht.

Von Annette Ramelsberger

Dass der Freistaat Bayern anders tickt als die anderen Bundesländer, gilt als geradezu sinnstiftendes Kennzeichen dieses Landes. Das Motto: immer schneller, immer besser, immer strenger als die anderen Länder. Und das nicht nur in der Corona-Pandemie. Manchmal hat man das Gefühl, auch die bayerische Justiz habe sich diesem Motto verschrieben. So halten sich die Gerichte in Bayern für besonders leistungsfähig, die Juraabsolventen werden besonders streng geprüft, und Strafverteidiger beklagen, dass die Strafen hier bedeutend härter ausfallen als für ein und dieselbe Tat im Norden Deutschlands. Recht so, denken sich da viele im Freistaat, nur keine falsche Nachsicht.

Es gibt allerdings Prozesse und Urteile, deren sich auch der Freistaat Bayern mittlerweile schämt - auch wenn man seinerzeit kein Wort des Bedauerns darüber verloren hat. So ein Ereignis ist der Prozess gegen den Memminger Frauenarzt Horst Theissen, den 1986 eine ehemalige Sprechstundenhilfe anonym wegen Steuerhinterziehung angezeigt hatte. Was auf diese Anzeige folgte, ging als "Hexenprozess von Memmingen" in die Geschichte der Justiz ein. Ein Prozess, durch den die bayerische Strafjustiz sich selbst dem Verdacht aussetzte, über das Vehikel der Steuerfahndung einen politischen Feldzug gegen das vom Bundestag durchgesetzte liberalere Abtreibungsrecht zu führen, gegen das die CSU gekämpft hatte. Ein Prozess war das, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Spiegel nannte das Vorgehen von Richtern und Staatsanwaltschaft damals einen "Kreuzzug".

Die Steuerfahndung beschlagnahmte zunächst die Patientendatei des Arztes und gab sie an die Staatsanwaltschaft weiter. Diese durchforstete die Datei und ermittelte daraufhin wegen illegaler Abtreibungen gegen den Arzt. Außerdem verschickte die Staatsanwaltschaft gegen mehr als hundert Frauen Strafbefehle wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 218, der seinerzeit das Thema Abtreibung regelte, in Höhe von bis zu 6000 Mark. Die meisten zahlten, um keinen Staub aufzuwirbeln. Dann aber lud das Landgericht Memmingen 156 Frauen als Zeuginnen vor Gericht. Fast 80 von ihnen wurden in öffentlicher Hauptverhandlung zu intimsten Details befragt. Die türkische Ehefrau, die nicht noch ein Kind haben wollte und die Abtreibung deswegen vor ihrem Mann verschwiegen hatte, musste genauso aussagen wie die 18 Jahre alte Schülerin, die kurz vor dem Abitur schwanger geworden war. Bald hatten Frauen im ganzen katholisch geprägten Allgäu Angst davor, dass ihre privatesten Probleme im Gericht ausgebreitet würden - denn die Praxis von Horst Theissen war die einzige in weitem Umkreis, die ambulant Abtreibungen vornahm. Bayern bestand darauf, dass Abtreibungen nur in Kliniken stattfanden, anders als die anderen Bundesländer.

Mit unnachsichtiger Strenge befragten die männlichen Richter die Frauen - bis dem besonders eifrigen Beisitzer im Frühjahr 1989 nachgewiesen wurde, dass er 1980 selbst seine Freundin zur Abtreibung gedrängt und mit ihr deswegen nach Hessen gefahren war. Der Richter wurde nach zweitägiger Beratung für befangen erklärt und musste aus dem Prozess ausscheiden. Das änderte aber nichts am Urteil: Der Arzt Theissen wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt - bei mehr als zwei Jahren kann die Strafe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden. In der Revision hob der Bundesgerichtshof das Strafmaß auf und verwies das Verfahren an das Landgericht Augsburg, weil in Memmingen wegen "der vergifteten Atmosphäre" kein objektives Urteil mehr gewährleistet erschien. Das Landgericht Augsburg erkannte auf eineinhalb Jahre und Bewährung. Theissens Existenz war vernichtet, er verließ Bayern und ging nach Hessen, später nach Niedersachsen. Im Juni 2020 ist er mit 81 Jahren gestorben.

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