Den Haag:Im Labor der Weltjustiz

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Die Fans von Vojislav Šešelj stört es wenig, dass ihr Held als Kriegsverbrecher verurteilt werden könnte: Sie gehen für ihn in Belgrad auf die Straße. (Foto: Alexa Stankovic/AFP)

Die Gründung des Jugoslawien-Gerichtshofs war ein kühnes Experiment. Es ist gelungen. Das Haager Tribunal wurde zum Schrittmacher des Völkerstrafrechts.

Von Stefan Ulrich, München

Es rüttelte die internationale Juristengemeinschaft wie ein Donnerschlag auf, als der UN-Sicherheitsrat 1993 das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag und im Jahr darauf das Ruanda-Tribunal in Arusha schuf. Erstmals seit den Militärgerichtshöfen von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg sollten internationale Gerichte Verbrechen ahnden, die so schwer sind, dass sie die ganze Menschheit betreffen. Nach der Verblüffung ergriff die Juristen Euphorie. Ein Fenster der Gelegenheit tat sich auf, um den Gedanken hereinzulassen, die vereinte Völkergemeinschaft ziehe fortan die schlimmsten Kriminellen gemeinsam zur Rechenschaft. Das Ziel: Auch und gerade die Mächtigsten - Staatschefs, Generäle - werden endlich bestraft, wenn sie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermorde begingen.

Der Anfang des Experiments war mühsam, vor allem in Den Haag, da die Verdächtigen im ehemaligen Jugoslawien oft noch an der Macht waren, zum Beispiel der serbische Präsident Slobodan Milošević. Das Jugoslawien-Tribunal erließ zwar fleißig Haftbefehle, konnte aber nicht verhandeln, weil es keine Angeklagten in Gewahrsam hatte.

Doch dann wurde der bosnische Serbe Duško Tadić, nicht gerade ein Hauptverantwortlicher der Kriegsgräuel, in Deutschland verhaftet, nach Den Haag überstellt und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Fortan arbeiteten sich die Staatsanwälte und Richter zu den Hauptverbrechern vor. Jetzt sind sie ganz oben angekommen. Vergangene Woche verurteilte der Gerichtshof den Ex-Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, zu 40 Jahren Haft. An diesem Donnerstag erwartet Vojislav Šešelj, den Chefideologen eines Großserbiens, sein Urteil. Der serbische Ex-General Ratko Mladić wird kommendes Jahr gerichtet. Damit nähert sich die Arbeit des Jugoslawien-Tribunals dem Ende, während das Ruanda-Tribunal bereits im Dezember sein letztes Urteil fällte. Ist das Experiment also geglückt?

Wer Neues wagt, begeht auch Fehler und erntet Kritik: Diese Erfahrung mussten der Sicherheitsrat und seine Sondertribunale machen. Die Verfahren zögen sich endlos hin, weshalb der wichtigste Angeklagte, Slobodan Milošević, schließlich 2006 in Haager Untersuchungshaft gestorben sei. Zudem sei das Tribunal parteiisch, weil es vor allem Serben verfolge. Schließlich, so der Hauptvorwurf, verfehlten die Urteile den vom Sicherheitsrat bestimmten Zweck, den Frieden wiederherzustellen. Sie brächten die Völker Ex-Jugoslawiens eher noch mehr gegeneinander auf.

Demgegenüber sagt der Kölner Völkerstrafrechtler Claus Kreß: "Das Jugoslawien-Tribunal ist für die ganze Völkerstrafjustiz ein Erfolg. Denn es ist ihm gelungen, an die Spitzen der Regime vorzudringen. Das ist der Beharrlichkeit der Richter zu verdanken; aber auch den europäischen Politikern, die das Tribunal letztlich wirksam unterstützt haben." Völkerstrafprozesse seien kompliziert und dauerten daher lange, auch wegen der verschiedenen Sprachen, dem schwierigen Zeugenschutz und weil manche Angeklagte das Gericht torpedierten. Dafür könnten die Richter genauso wenig wie für den Tod Miloševićs.

Heute lasse sich noch nicht sagen, ob die Haager Justiz die Versöhnung auf dem Balkan voranbringe, sagt der Völkerstrafrechts-Professor. Ein solcher Prozess dauere Jahrzehnte. Zudem sei Versöhnung nicht das vorrangige Ziel der Haager Justiz. "Es geht vielmehr darum, dass die internationale Gemeinschaft an fundamentalen Normen festhält und diejenigen verfolgt, die sie verletzen." Die Tribunale in Den Haag und Arusha hätten die Ideen von Nürnberg und Tokio weiterentwickelt und in die heutige Welt übertragen.

Auch statistisch erscheinen die Tribunale als Erfolge: Das Ruanda-Tribunal verurteilte 61 Kriegsverbrecher und Völkermörder und damit die meisten Hauptverantwortlichen für den Genozid in dem ostafrikanischen Land. Problematisch ist jedoch, dass kein Angehöriger der Tutsi-Organisation RPF des heute herrschenden Präsidenten Paul Kagame bestraft wurde. Das Jugoslawien-Tribunal wurde aller 161 Angeklagten habhaft. Es verurteilte bislang 80 Serben, Bosniaken, Kosovaren, Kroaten und Montenegriner. Dass Serben in der Mehrheit sind, lässt sich daraus erklären, dass Serben im zerfallenden Jugoslawien mehr Macht hatten als andere Ethnien.

Afrikanische Staaten werfen dem Gericht vor, es ermittle einseitig nur gegen Afrikaner

Das Werk der Tribunale für Jugoslawien und Ruanda führt nun der Internationale Strafgerichtshof fort, der ebenfalls in Den Haag residiert und vom Anspruch her weltweit für schwerste Menschheitsverbrechen zuständig ist. "Ohne das Jugoslawien-Tribunal würde es dieses Weltgericht nicht geben", sagt Kreß, der an dessen Gründung im Jahr 1998 mitgearbeitet hat.

Allerdings durchlebt das Völkertribunal, dem sich Staaten wie China und die USA verweigern, eine schwierige Phase. Afrikanische Staaten, die zu seinen wichtigsten Unterstützern gehörten, werfen ihm vor, es ermittle einseitig nur gegen Afrikaner. Südafrika weigerte sich vergangenes Jahr völkerrechtswidrig, den vom Weltgericht per Haftbefehl gesuchten sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir nach Den Haag zu überstellen. Die afrikanischen Staaten drohen, sich kollektiv aus dem Weltgericht zurückzuziehen.

Dabei sind die Vorwürfe, das Gericht sei anti-afrikanisch haltlos. In Afrika toben nun einmal viele blutige Konflikte. Die Chefanklägerin ist selbst Afrikanerin. Und das Gericht ermittelt nun auch wegen Verbrechen in Staaten wie Georgien oder Syrien. Zudem wurde der schwerste europäische Fall für die Völkerstrafjustiz - Ex-Jugoslawien - vom Jugoslawien-Tribunal aufgearbeitet. Kreß rät dem Weltgericht daher, selbstbewusst bei seiner Linie zu bleiben und Kritik beharrlich entgegenzutreten. "Die Weltstrafjustiz steht jetzt vor der großen Probe: Hält sie das durch?"

© SZ vom 31.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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