Demokratie:Meinungsvielfalt bis zum Gong

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Beim "Festival der Meinungsverschiedenheiten" in Chemnitz reden Bürger darüber, in welcher Stadt sie leben wollen. Die moderierten Tischgespräche bringen Menschen aus unterschiedlichen Vierteln und politischen Lagern zusammen.

Von Ulrike Nimz, Chemnitz

Ein Chemnitzer Satire-Blog hat den Park vor der Stadthalle mal den "Görli von Karl-Marx-Stadt" genannt. Weil die Grünfläche beliebter Aufenthaltsort von Jugendlichen und Trinkern war, es zu Prügeleien und Raubdelikten kam, fast wie in Berlin. Jetzt haben sie hier Tische aufgestellt, darauf Kaffee und Kekse.

Ein Jahr nachdem ganz in der Nähe ein junger Mann durch Messerstiche getötet wurde, rassistische Aufmärsche die Stadt und das Land erschütterten, wagen die Chemnitzer an diesem Samstag ein Experiment. Das "Festival der Meinungsverschiedenheiten" will Bürger allen Alters, aus unterschiedlichen Vierteln und politischen Lagern in moderierten Tischgesprächen zusammenbringen. Es geht um die Frage: In welcher Stadt wollen wir künftig leben?

Zunächst einmal diskutieren die Teilnehmer an Tisch 36 aber darüber, in welcher Stadt sie nicht leben wollen. Ein junger Mann, in Chemnitz aufgewachsen, beklagt eine "grauenvolle Stimmung" in der Stadt. Eine Psychologiestudentin pflichtet ihm bei: Homosexuellen Freunden habe sie geraten, aufs Händchenhalten zu verzichten. Eine ältere Dame fürchtet "die frauenfeindliche Ideologie der Flüchtlinge", gerade nachts, gerade hier am Stadthallenpark. Am Nachbartisch kommt man zu völlig anderen Einschätzungen: Chemnitz sei seit der Wende lebenswerter und bunter geworden. Alle fühlen sich sicher.

Begleitet wird das Dialogformat von der Chemnitzer Veranstaltungsgesellschaft C3, der Technischen Universität und dem Dresdner Institut B3, das schon den Bürgern von Ostritz half, sich nicht allein an rechtsextremen Konzertbesuchern abzuarbeiten, sondern eigene Strategien für ein gedeihliches Miteinander zu entwickeln. Ergebnisse der Gesprächsrunden werden protokolliert und in die "Chemnitz-Strategie" einfließen, das Leitbild der Stadt.

Nach 45 Minuten ist Tischwechsel. Kein lautes Wort ist gefallen

Nach 45 Minuten fordert ein Gong zum Tischwechsel auf. Kein lautes Wort ist gefallen, obwohl in mindestens einer Runde lokales AfD-Personal sitzt. Ein paar Kilometer entfernt, im Ballsaal Hilbersdorf, doziert Parteichef Alexander Gauland vor etwa 300 Menschen über die Vorzüge von Atomkraftwerken. Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin sitzt mit im Park. Die Ereignisse vom August 2018 hätten bei allem Schrecken auch positive Kräfte freigesetzt, sagt Barbara Ludwig (SPD). "Wir können die Bilder nicht ungeschehen machen, aber wir können sie überschreiben."

Im März war das Chemnitzer Stadtfest wegen Sicherheitsbedenken abgesagt worden. Kulturschaffende und Unternehmer wollten das nicht hinnehmen, gründeten den Verein Chemnitzer Bürgerfest, organisierten eine eigene Veranstaltung unter dem Motto "Herzschlag". An elf Orten im Zentrum gibt es an diesem Wochenende Musik und Straßenkunst. "Es soll ein Fest von Bürgern für Bürger sein, das ein positives Bild nach außen sendet", so Sprecher Sebastian Thieswald. "Wir wollten, dass an diesem Tag keine Stille herrscht, die man als Totenstille interpretieren kann." Als an den Tischen vor der Stadthalle zum letzten Mal der Gong ertönt, bleiben die Chemnitzer einfach sitzen.

© SZ vom 26.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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