Coronavirus in Italien:Die Stadt, in der die Glocken nicht mehr läuten

Nembro. Nembro Val Seriana country in the province of Bergamo where numerous cases of CoronaVirus COVID19 have been reco

Die Stadt Nembro in der Lombardei.

(Foto: Carlo Cozzoli/imago images)

Nirgendwo in Italien wütet das Coronavirus so schlimm wie in der Kleinstadt Nembro in der Lombardei. Mehr als 90 Tote gibt es bereits - und wenig Hoffnung. Eindrücke aus einer verzweifelten Stadt.

Von Mario Calabresi, Nembro

Am 7. März hörten die Todesglocken in Nembro auf, ihren Dienst zu tun: "Wir haben beschlossen, sie seit jenem Samstag, dem Tag der vier Beerdigungen, nicht mehr zu läuten. Das hätte bedeutet, dass der ganze Tag vom Klang der Totenglocke erfüllt gewesen wäre, und das hätte unsägliche Qualen für die gesamte Stadt verursacht. Wir hielten es für das Beste, die Dinge einfach auf sich beruhen zu lassen", sagt Don Matteo.

Die kleine Stadt Nembro mit ihren 11 500 Einwohnern und zahlreichen Kirchen, die alle einer einzigen Pfarrei unterstehen, wird von fünf Priestern betreut. Vier wurden krank, nur einer blieb gesund, der jüngste: Don Matteo, 40 Jahre alt, ursprünglich aus San Pellegrino Terme.

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Nembro, dieses Städtchen nordöstlich von Bergamo in der italienischen Lombardei, gelegen am Eingang des Seriana-Tals, läuft Gefahr, in die Historienbücher einzugehen - als jene Stadt mit dem höchsten Prozentsatz an Toten, die das Coronavirus fordert.

Im Jahr 1630 tötete die Pest fast drei Viertel der Einwohner

Geschichte würde sich damit wiederholen: Im Jahr 1630 hat die Pest in Nembro gewütet und fast drei Viertel der 2700 Einwohner hinweggerafft; nur 744 haben damals überlebt. Und nun wütet das Coronavirus.

Im vergangenen Jahr starben in Nembro 120 Menschen, zehn pro Monat. Jetzt sind 70 Menschen innerhalb von nur zwölf Tagen gestorben.

Ich habe mich auf die Suche nach dem Pfarrer von Nembro gemacht, aber stattdessen finde ich nur seinen Assistenten, den Vikar Don Matteo Cella. Er berichtet mir von den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Wochen: "Seit dem Beginn der Epidemie haben wir laut der Pfarrstatistik 39 Beerdigungen in der Kirche abgehalten, weitere 26 auf dem Friedhof. Zudem haben wir 26 Tote, die noch beerdigt werden müssen. Das sind 91 Tote, ohne alle jene, die in den letzten Tagen gestorben sind und von denen wir noch nichts gehört haben."

Nembro. Funeral in Nembro, a town in the Val Seriana in the province of Bergamo where numerous cases of CoronaVirus COVI

Beerdigungen in Nembro können nun nicht mehr stattfinden.

(Foto: imago images/Independent Photo A)

Die Epidemie scheint sehr viel früher begonnen zu haben

Nembro steht still, der Gang durch die Stadt ist surreal: Niemand befindet sich auf den Straßen, alle Geschäfte sind geschlossen, die Lebensmittelläden und die Apotheke ebenfalls - sie liefern nur nach Hause. Vor Kurzem war der Rathausplatz noch voller Kinder, jetzt ist keine Menschenseele mehr zu sehen. Alles wirkt wie eingefroren, seit die Regierung in Rom beschlossen hat, die gesamte Lombardei abzuriegeln.

Das war Anfang März, doch die Geschichte des Coronavirus scheint hier noch sehr viel früher begonnen zu haben. Mit jedem Tag, den diese Epidemie nun anhält, spricht mehr dafür, dass der hier so genannte "Paziente uno" (im Deutschen bezeichnet als "Patient null"; Anm. d. Red.), ein Mann aus Codogno in der Gegend von Lodi, nur die erste Person war, die in Italien getestet wurde - und der Erste, der offiziell zum Infizierten erklärt wurde.

Offenbar hat sich die Epidemie aber schon zuvor über einige Zeit hinweg ausgebreitet.

"Die Sache gibt es seit Anfang des Jahres - oder sogar seit Weihnachten"

Don Matteo betont, dass er kein Arzt sei - und dass er deshalb nicht zu weit gehen möchte. Der Vikar von Nembro beschränkt sich deshalb darauf, die Fakten zu schildern, die in seiner Gemeinde für so viel Verwüstung gesorgt haben.

"Wir glauben", sagt er, "dass es diese Sache seit Anfang des Jahres oder sogar seit Weihnachten gibt, ohne dass sie identifiziert wurde. Zunächst hatte das Pflegeheim in Nembro eine wachsende Zahl von anomalen Todesfällen: Im Januar starben zwanzig Menschen an einer Lungenentzündung. Im gesamten letzten Jahr gab es dort nur sieben Todesfälle. Und so schwoll die Zahl der Beerdigungen Woche für Woche an, und alle sprachen von dieser schweren Lungenentzündung. Vor dem Karneval lag die halbe Stadt mit Fieber im Bett. Ich erinnere mich, dass wir, während wir diskutierten, ob wir die Feierlichkeiten und die Parade mit den Kindern abhalten sollten, den 'Hausaufgabenraum' schließen mussten. Denn die meisten Freiwilligen, die die Kinder beaufsichtigten, waren krank. Aber vom Coronavirus war damals in Italien keine Rede. Wer weiß, wie viele von uns schon krank waren und dann wieder gesund wurden."

Priester Don Matteo aus Nembro in der Lombardei

Priester Don Matteo.

(Foto: privat)

Don Matteo kümmert sich normalerweise um die jüngeren Mitglieder der Gemeinde. "Nach und nach", berichtet er, "kam alles zum Stillstand. Wir begannen, die Messe auszusetzen. Aber wir kümmerten uns so lange wie möglich um die Kranken, trafen ihre Familien, denn man kann ihnen den Trost nicht verweigern. Wir versuchten, so viel Vorsicht wie möglich walten zu lassen, aber heute bin ich der einzige Priester, der noch gesund ist; die anderen haben alle Fieber. Don Giuseppe ist im Krankenhaus, und auch Don Antonio, der Pfarrer, war krank. Jetzt ist er wieder gesund. Dann begannen wir mit den ersten Beerdigungen derer, die vom Coronavirus befallen wurden. Nur die engste Familie war anwesend. In der ersten Märzwoche begruben wir 14 Personen, während es normalerweise nur zwei sind."

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