Corona-Demonstrationen:Um die Zweifler lohnt es sich zu kämpfen

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Eng beieinander und meist ohne Maske: Demonstranten in Berlin (Foto: imago images/Stefan Zeitz)

Viele, die in Berlin mitmarschiert sind, wollen die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen. Doch es sind nicht nur Fanatiker. Wer, wie SPD-Chefin Esken, auch die Labilen, Frustrierten und Unentschiedenen zu "Covidioten" macht, gibt sie vorschnell verloren.

Kommentar von Detlef Esslinger

Vielleicht waren es 17 000 Teilnehmer, vielleicht 20 000, vielleicht auch etliche mehr. Darauf kommt es im Grunde gar nicht an. Die Idee, die hinter jeder Demonstration steckt - egal, ob es um Klimaschutz, Hartz IV oder Corona geht -, wird stets von viel mehr Menschen geteilt als nur von jenen, die die Mühe des Plakatebastelns, des An- und Abreisens, des stundenlangen Mitlaufens, des Fahrschein- und Essenkaufens auf sich genommen haben. Wenn also eine wohl fünfstellige Anzahl von Menschen am Samstag die Straße des 17. Juni in Berlin bevölkert hat, muss man befürchten, dass zum Ausdruck gebracht wurde, was Hunderttausende umtreibt; mindestens.

"Befürchten" ist deshalb der passende Ausdruck, weil sich eine Frage ja aufdrängt nach dieser Demo: Was wird eigentlich los sein in diesem Land, falls das Virus die dort ausgesprochene Einladung dankend angenommen hat? Falls es auch deshalb demnächst zu einem zweiten Lockdown kommen sollte - an den sich dann aber eine nennenswerte Minderheit nicht halten mag?

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Immer wieder ist ja erstaunlich, wie viele Menschen stolz darauf sind, nichts zu kapieren. Wenn ein solcher Stolz indes dazu führt, dass sie sich selbst sowie Polizisten, Passanten und überhaupt die Allgemeinheit in Gefahr bringen, werden die Behörden zu prüfen haben, ob sie eine solche Zusammenkunft künftig nicht vorher untersagen müssen. Das aber ist nur der sozusagen administrative Teil des Problems.

Der andere, viel größere ist: Die Demonstranten haben dem weitaus überwiegenden Teil der Gesellschaft eine Aufgabe gestellt, auf die diese keine Antwort hat. Man kann rational darum ringen, welche Freiheiten vorübergehend beschränkt werden sollen und welches Risiko gewagt werden muss. Doch wie nur geht man mit Menschen um, deren Demo-Aufruf ernsthaft den Titel "Das Ende der Pandemie" trägt?

Ein Teilnehmer sagte einer ZDF-Reporterin, die Infektions- und Todeszahlen stimmten nicht, "man" wisse das doch mittlerweile. Für diese Art des "Diskutierens" hat der Evolutionsbiologe Carl Bergstrom von der University of Washington im Guardian eine Metapher gewählt: "Statt dass alle Hände an Deck helfen, bestreitet das halbe Schiff, dass es überhaupt sinkt. Viele Leute stehen mit der Taille im Wasser und sagen, alles ist gut."

Bei jeder Demo laufen auch die nicht endgültig Entschiedenen mit

Wie man die Aufgabe ganz bestimmt nicht löst, hat am Wochenende Saskia Esken gezeigt. Die Twitter-Aktivistin, die auch SPD-Vorsitzende ist, belegte die Demonstranten mit dem zurzeit modischen Schimpfwort "Covidioten". Jeder hat das Recht, dies zu denken und zu sagen. Es möge sich aber jeder auch in die Lage der so Bezeichneten hineinversetzen: Würde man selbst noch auf ein Gespräch mit jemandem Wert legen, der einen öffentlich als "Idiot" bezeichnet hat?

Bei jeder Demo laufen nicht nur die Fanatiker mit, sondern immer auch die Zweifelnden, die nicht endgültig Entschiedenen. Schon der Augenschein offenbarte am Samstag eine neuartige, seltsame Querfront. Vor einem halben Jahr hätte man es wohl nicht für möglich gehalten, "Lügenpresse"-Schreier, Verschwörungsfantasten, Yoga-Lehrerinnen sowie Deutsches-Reich- und Regenbogenfahnen gemeinsam auf der Straße zu entdecken. Wer solchen Menschen die Suche nach einem gemeinsamen Gegner erleichtern und deren Band untereinander noch enger knüpfen will, der schreibt als Vorsitzende einer Regierungspartei einen solchen Tweet.

Beschimpfungen führen nur dazu, dass sich die Gesellschaft noch weiter spaltet - und dass die Skeptiker, die Labilen, die Frustrierten erst recht dazu neigen, sich bei Facebook, Google und Youtube ihre Gewissheiten zu suchen. Wer verhindern will, dass beim nächsten Mal statt 17 000 vielleicht 70 000 Menschen auf die Straße wollen, der schreibt sich Michelle Obamas Motto hinter die Ohren: "When they go low, we go high" - wenn die anderen das (Diskussions-)Niveau senken, heben wir es.

Wie geht das? Die eine großartige Idee dazu existiert nicht. Es gibt aber viele kleine Ideen, die zusammen etwas bewirken können: Journalisten, Politiker und Wissenschaftler könnten noch transparenter machen, wie sie arbeiten. Schulen und Volkshochschulen könnten den Leuten zeigen, wie man Quellen prüft, also die vertrauenswürdigen von den aufwiegelnden unterscheidet. Facebook, Twitter und Youtube könnten - zum eigenen Wohl - endlich all den Scharlatanen den Saft abdrehen, die sich bei ihnen breitmachen. Denn sollte es denen eines fernen Tages gelingen, die Demokratie zu schleifen, werden sie danach als Erstes der freien Rede bei den Netzwerken, also deren Geschäftsmodell, das Ende bereiten. Und in der Justiz sollten sich alle jene Ermittler zum Vorbild nehmen, die bereits jetzt intensiv gegen Verbreiter von Hass vorgehen. Ja, etliche von ihnen sind für die Demokratie vorerst verloren. Aber um die Hadernden lohnt es sich jeden Tag zu kämpfen.

© SZ vom 03.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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