Bundesverfassungsgericht:Die Gebrechlichkeitspfleger der Politik

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Richterwahl in Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht bekommt klugen Zuwachs, muss für den europäischen Einigungsprozess aber auch Opfer bringen.

Heribert Prantl

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Geschichte, die ruhmreich genannt werden kann, drei große Krisen erlebt. Die erste war 1952/53, die zweite 1994/95 und die dritte hat soeben begonnen, aber es hat noch keiner bemerkt. Die dritte Krise hat nichts mit dem neuen Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle zu tun, der an diesem Freitag im Bundesrat gewählt wird und der künftig der Vizepräsident und in zwei Jahren der Präsident des Gerichts sein wird. Voßkuhle wird, darin besteht das Problem, an der Spitze eines Gerichts stehen, das nicht mehr das ist, was es einmal war.

Das Bundesverfassungsgericht wird durch den Vertrag von Lissabon an Macht verlieren - und bleibt doch noch sehr mächtig. (Foto: Foto: dpa)

Auslöser dieser stillen Krise ist der EU-Vertrag von Lissabon, dem der Bundestag am Donnerstag zugestimmt hat. Dieser Vertrag verändert die Stellung des Gerichts, er macht es kleiner, er reduziert seine Bedeutung; er hat also zur Folge, was etliche Politiker schon in den beiden ersten großen Krisen bewirken wollten, aber nicht geschafft haben: eine Entmachtung des Verfassungsgerichts. Der Vertrag besiegelt eine langjährige Entwicklung, die immer mehr Gewichte von Karlsruhe nach Luxemburg, zum EU-Gerichtshof, verschoben hat. Die letzte Kompetenz zum Grundrechtsschutz in Europa liegt in Luxemburg, nicht mehr in Karlsruhe - weil das Recht mehr und mehr von Europa dirigiert wird.

EU-Gerichtshof? Das muss kein Unglück sein - aber ob sich in Luxemburg das Glück wiederholt, das Deutschland seit fast sechs Jahrzehnten mit dem Bundesverfassungsgericht hatte, ist nicht sicher. Der EU-Gerichtshof ist bisher noch ein ungeschlachtes, wenig volksnahes juristisches Gebilde. Ob das Wort "Luxemburg" je den verheißungsvollen Klang wie "Karlsruhe" für den Recht suchenden Bürger haben wird?

Die Geschichte aus Karlsruher Perspektive

Sicher: Das Bundesverfassungsgericht wird weiterhin einige Macht haben; es wird weiterhin bedeutende und geschliffene Urteile fällen; der neue, kluge Richter Voßkuhle (er ist 44 Jahre alt, noch nie hatte das Verfassungsgericht einen so jungen Vizepräsidenten oder Präsidenten) wird das Seine dazu beitragen; und zu den grauen, mittlerweile 118 Bänden, in denen die Entscheidungen des Gerichts gesammelt werden, werden noch viele dazukommen. Diese Sammlung ist auch Geschichtsschreibung: sie schreibt die Geschichte der Bundesrepublik aus Karlsruher Perspektive.

Vielleicht wird in dieser Sammlung eines Tages auch noch ein Urteil zum Lissabonner Vertrag stehen. Es wird sicherlich Verfassungsbeschwerden gegen diesen Lissabonner Vertrag geben, die Linke hat das angekündigt, wohl auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler wird es tun, der schon einmal die Politik und das Gericht mit staatsrechtlich wohlfundierten Darlegungen in Verlegenheit gebracht hat. Aber das Gericht wird wohl nicht mehr die Macht und die Kraft haben, sich seine alte Macht zurückzuholen. Das gehört zu den Opfern, die der europäische Einigungsprozess verlangt.

Das Bundesverfassungsgericht wird von Europa zu einem Landesverfassungsgerichtshof reduziert; es bleibt immer noch bedeutend, aber es kann nicht mehr garantieren, was es bisher garantieren konnte und wollte: den umfassenden Grundrechtsschutz für die Menschen, die in Deutschland leben. Das Versprechen des umfassenden Grundrechtsschutzes muss nun der Europäische Gerichtshof einlösen, und Karlsruhe hat keine Möglichkeiten, dies zu garantieren oder im Notfall an seine Stelle zu treten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich das Bundesverfassungsgericht in jüngster Zeit profiliert hat...

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Mehrmals hat das Bundesverfassungsgericht in sehr bedeutenden Entscheidungen judiziert, dass es sich in die europäischen Dinge nicht einmische, solange die Grundrechte von der EU beachtet werden. So steht es vor allem in der "Solan-ge"-Entscheidung von 1986 und im Maastricht-Urteil von 1993. So lange hat das Gericht zugewartet. Zu lange? Bisher war es so, dass das Gericht in den Prozess der Abwanderung von (auch justiziellen) Souveränitätsrechten hätte eingreifen können, wenn es gewollt hätte; es hätte etwa eine Volksabstimmung über einen der großen EU-Verträge anordnen können. Ob es das jetzt noch kann?

Auch die erste Krise des Verfassungsgerichts, die von 1952/53, war europäisch induziert: Damals ging es in fünf Karlsruher Prozessen um die Wiederbewaffnung, also um die Aufstellung einer westdeutschen Armee und um die Verschmelzung der nationalen Streitkräfte zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG - und damit, schon damals, um die Grundlage eines echten europäischen Bundesstaates; es klagte unter anderem die SPD.

Konflikt um innere Sicherheit

Und die Regierung Adenauer agitierte vehement gegen das Gericht, weil sie fürchtete, es könnte der Politik in die Quere kommen ("Dat ham wir uns so nich vorjestellt", hat Konrad Adenauer damals gesagt; das Gericht, so hatte er sich das vorgestellt, sollte gegen Kommunisten und Faschisten entscheiden, aber nicht gegen ihn, den Kanzler). Weil die EVG aber am Widerspruch Frankreichs scheiterte, erledigten sich damals die Verfahren ohne Sachentscheidung des Gerichts. Aber Karlsruhe ging gestärkt aus den Auseinandersetzungen mit der Politik hervor. Die Mächtigen haben sich seitdem an Widerspruch aus Karlsruhe gewöhnen müssen.

Die zweite große Krise war 1994/1995, als das Gericht sechs Beschlüsse fasste, die nicht ins politische Weltbild der Regierung passten: "Freigabe Haschisch", "Soldaten sind Mörder", "Sitzblockaden", "Freispruch für DDR-Spionagechef Wolf", "Kruzifix-Urteil" und "Soldaten sind Mörder II". Jedesmal liefen Politiker von CDU/CSU und FDP Sturm. Das war, so konstatiert der Berliner Rechtshistoriker Uwe Wesek, "einmalig in der deutschen und ausländischen Justizgeschichte" - bis Silvio Berlusconi kam, der italienische Ministerpräsident, der die Richter in seinem Land regelrecht schikaniert. Der Ruf des Gerichts in der Öffentlichkeit schwand zunächst, aber dann ging es bald wieder bergauf.

In jüngster Zeit hat das Gericht in einer spektakulären Serie von Entscheidungen der Politik auf dem Gebiet der inneren Sicherheit "Halt" zugerufen. Die Produktivität des Gesetzgebers auf diesem Terrain war den Richtern etwas unheimlich. Auf anderen Gebieten gibt es diese Produktivität nicht: In der Sozial-, Steuer- und Familienpolitik legt die Politik gern die Hände in den Schoß und wartet darauf, welche Linie Karlsruhe vorgibt. So ist der Einfluss des höchsten Gerichts auf die Politik gewachsen - nicht immer zu deren Bestem. Die Verfassung gibt nämlich nicht vor, was die tauglichsten und die sinnvollsten Mittel sind, die eingesetzt werden können. Das zu entscheiden ist Sache der Politik. Hier wird, Luxemburg hin oder her, Karlsruhe auch weiterhin der Gebrechlichkeitspfleger der Politik sein.

© SZ vom 25.04.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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