Bundestagswahl:Mathematik für Sieger

Lesezeit: 2 min

Die absurden Folgen des deutschen Wahlrechts: Wenn genügend CDU-Anhänger mit ihrer Zweitstimme FDP wählen, hilft das der Union. Die SPD muss auf die Erststimme der Linken hoffen.

Felix Berth

Die seltsamen Folgen des deutschen Wahlrechts ließen sich kurz nach der letzten Bundestagswahl beobachten. Im Wahlkreis Dresden I konnte am Wahltag, dem 18. September 2005, nicht abgestimmt werden, weil eine Kandidatin kurz zuvor verstorben war. Also ordneten die Behörden eine Nachwahl an, Termin 2. Oktober.

Das Muster eines Stimmzettels zur Bundestagswahl am Sonntag. (Foto: Foto: ddp)

Nun aber sprach sich unter den Anhängern der Union herum, dass sie ihrer Wunsch-Partei schaden würden, wenn sie ihr die Zweitstimme gäben - im Internet kursierten glaubwürdige Modellrechnungen, dass im Bundestag letztlich ein Unions-Abgeordneter weniger säße, wenn die CDU bei der Dresdener Nachwahl zu viele Zweitstimmen erhielte. Die kundige Website www.wahlrecht.de empfahl CDU-Anhängern: "Bloß nicht der CDU die Zweitstimme geben".

Taktik mit Erfolg

Diese Warnung, der die CDU nicht ernsthaft widersprach, nahm ein erheblicher Anteil der Unions-Anhänger ernst. Zwar gingen im Wahlkreis Dresden I exakt 37 Prozent der Erststimmen an die Union, aber nur 24 Prozent der Zweitstimmen. Die Taktik hatte Erfolg: Der lokale CDU-Kandidat zog in den Bundestag ein, aber das Gesamtergebnis ging nicht zu Lasten der Union.

Nun ist taktisches Wählen in der Bundesrepublik nicht neu: Seit Jahrzehnten entscheiden sich Anhänger kleiner Parteien, ihre beiden Stimmen aufzuteilen: Der kleinen Partei geben sie nur die Zweitstimme, nicht aber die Erststimme, weil die geschätzte kleine Partei ohnehin keine Chance auf ein Direktmandat hat. Doch in Dresden war zum ersten Mal die Umkehrung dieses Prinzips zu beobachten: Wähler gaben ihre Zweitstimme der FDP, um der Union nicht zu schaden.

Zurückhaltend mit Empfehlungen

Was in Dresden erfolgreich war, könnte sich bei der Bundestagswahl am Sonntag wiederholen. Denn in einigen Bundesländern wird die Union alle oder fast alle Direktkandidaten in den Wahlkreisen durchbringen. Deshalb kalkuliert mancher Wähler vielleicht, dass seine Zweitstimme für die CDU nutzlos wäre. Also könnte er seine Stimmen splitten wie es in Dresden geschah. Wahlrecht.de zum Beispiel rät Unions-Anhängern in Baden-Württemberg und Sachsen dazu.

Bitte klicken Sie auf das Bild, um den Wahl-O-Mat zu starten:

Die Parteien halten sich freilich mit solchen Empfehlungen zurück. Politisch ist das logisch: Würde ein CDU-Politiker in Baden-Württemberg seinen Wählern empfehlen, der FDP die Zweitstimme zu geben, wären seine Parteifreunde entsetzt: Er würde für irritierende Schlagzeilen sorgen, könnte Wähler verunsichern und wäre wahrscheinlich bald nur noch ehemaliger Unions-Politiker. Dass er wahlmathematisch recht hätte, ist zweitrangig.

Grotesk viele Überhangmandate

Nun kann man spekulieren, wie viele Wähler sich gleichwohl für die neue Variante des taktischen Wählens entscheiden, wie sie von den Wahlrechts-Freaks im Internet propagiert wird: Sind es ein paar hundert? Ein paar tausend? Zehntausende? Der Politologe Joachim Behnke hält es für möglich, dass sich in den betroffenen Bundesländern fünfzehn Prozent der Unions-Anhänger so verhalten könnten; in diesem Fall kommen seine Modellrechnungen auf eine grotesk hohe Anzahl von Überhangmandaten für die Union - es könnten dreißig und mehr werden.

Behnke, der die profundesten Modellrechnungen für die erwarteten Überhangmandaten vorgelegt hat, skizziert freilich auch ein Szenario, das der Union weniger gefallen würde. Möglicherweise werden nämlich Anhänger der Linkspartei in bisher ungekanntem Ausmaß taktisch wählen. Sie könnten - was sie bei vorherigen Wahlen kaum taten - ihre Erststimmen in größerer Zahl der SPD geben. Dann gäbe es am Wahlabend eine große Überraschung: Die SPD erhielte dank dieser Unterstützung möglicherweise sogar mehr Überhangmandate als die Union. Aber auch da gilt: Die Linkspartei hütet sich vor solchen Empfehlungen.

© SZ vom 23.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: