Bundestagswahl:Die Gefahren einer Demoskopen-Demokratie

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In der Erfolgsgesellschaft wird Erfolgskontrolle verlangt. Doch statt über Politik zu reden, starren die Parteien auf Umfragewerte.

Erhard Eppler

In dem Maße, fast sogar in dem Tempo, in dem sich unsere Leistungsgesellschaft in eine Erfolgsgesellschaft verwandelt hat, ist Bedeutung und Wirkung der Demoskopie gestiegen. Eine Erfolgsgesellschaft verlangt Erfolgskontrolle. In der Wirtschaft sind das die Quartalsberichte, die längerfristiges Denken und Planen eher bestrafen.

In der Politik wären Quartalsumfragen ein Segen; wir haben uns daran gewöhnt, dass Institute alle 14 Tage mit neuen Zahlen kommen, und da es immer mehr Institute gibt, können wir wöchentlich zwei- oder dreimal erfahren, wessen Popularität gewachsen, für wen oder für welche Partei die Zustimmung abgenommen hat.

Umfragen sind nichts Neues

Was das für die Politik bedeutet, fällt wohl nur noch dem auf, der so alt ist, dass er Politik erfahren oder mitgestaltet hat in einer Zeit, als die Demoskopie weniger perfekt, seltener öffentlich, vor allem weniger wichtig war als heute.

Natürlich gab es schon vor gut 40 Jahren, zu Zeiten der ersten Großen Koalition, Umfragen. Was Allensbach herausgefunden hatte, stand manchmal sogar in Zeitungen, meist ging es aber nur an Auftraggeber wie das Kanzleramt, und Kanzler Kiesinger hat dann auch seinen Finanzminister Strauß und seinen Außenminister Brandt eingeweiht. Auch in den Führungsgremien der Parteien wurde so gut wie gar nicht über Umfragen diskutiert. Das hatte seine Vorteile.

Als von Brandt in Richtung Osten ganz neue Töne zu vernehmen waren, fragte niemand, ob dies den Umfragewerten für ihn selbst und seine Partei aufhelfen oder schaden werde. Alle fragten - wie altmodisch! -, ob Brandts Politik richtig oder falsch sei. Es entzündete sich eine leidenschaftliche Sachdiskussion, die dann die frühen siebziger Jahre zur spannendsten Epoche in der Geschichte der Bundesrepublik werden ließ.

Kein Zutrauen in die Demokratie

Niemand fragte, ob das, was Plisch und Plum (Strauß und Schiller) zur Belebung der Konjunktur taten, in Umfragen mehr der einen oder der anderen Partei zugute komme. Allerdings gab es auch einen Kanzler, der Wert darauf legte, dass beide seine Minister und ihre Politik die der Bundesregierung und daher auch die seine seien. Dass es damals - anders als heute - einen erkennbar gemeinsamen Willen des Verfassungsorgans Bundesregierung gab, hat viele Gründe. Einer davon ist, dass niemand, weder die Öffentlichkeit noch die Politiker, auf die neuesten Umfragewerte zu starren brauchte.

Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Deutschen der Demokratie nicht mehr viel zutrauen. Ein Drittel erwartet nicht mehr, dass die demokratischen Kräfte mit unseren Aufgaben fertig werden. So glaubt die Hälfte jener drei Viertel, für die es in Deutschland ungerecht zugeht, dies werde auch so bleiben. Und dies nicht, weil die Globalisierung die Handlungsräume einengt, sondern weil "die Politiker" nichts ändern wollten. Sie dächten nur an sich, ihre Posten, also an die nächste Wahl, die Umfragen. Politik schnurrt im Bewusstsein vieler Menschen zusammen zur Parteitaktik. Die ist so abstoßend, dass viele bei Wahlen guten Gewissens zu Hause bleiben.

Damit tun sie natürlich allen Parteien Unrecht. Aber kommt diese gefährliche Verkürzung von ungefähr? Politiker der Sozialdemokratie, der man manches vorwerfen kann, nur nicht, dass sie in ihrer langen Geschichte immer nur an sich selbst gedacht hätte, werden heute nicht mehr gefragt: "Wie haltet Ihr es mit den Steuern, den Renten, den Ganztagsschulen, dem Verbraucherschutz?" Nein, sie bekommen immer dieselbe Frage: "Wie wollen Sie aus dem Umfragetief herauskommen?"

Was auch immer sie antworten, es ist durch die Frage schon abgewertet als Wahltaktik. Nicht um sozialen Ausgleich oder gesunde Staatsfinanzen geht es ihnen, sondern um Wählerstimmen und also um ihre eigenen Interessen. Was die Frage unterstellt, kann keine Antwort reparieren.

Interessante Fragen gehen unter

Wer die Fernsehinterviews der beiden Spitzenkandidaten Merkel und Steinmeier aufmerksam verfolgt hat, konnte nachher sehr wohl darüber Auskunft geben, wie souverän sie auf knifflige, unbequeme oder auch dümmliche Fragen reagiert hatten, wie schlagfertig, wie höflich oder leicht verärgert sie geantwortet hatten.

Was der potentielle Wähler nicht erfuhr, war, was die beiden denn vorhaben. Und dies nicht, weil Angela Merkel darüber nicht gerne redet, sondern weil die Fragen dies gar nicht zuließen, auch nicht bei Steinmeier. Es ging um Koalitionen, um Chancen, um Umfragen, um Lappalien wie Ulla Schmidts Dienstwagen oder Josef Ackermanns Geburtstagsparty. Politik degeneriert zum taktischen Geplänkel. Interessant sind Erfolg und Misserfolg, nicht das Ringen um den besseren Weg.

Aus den USA, wo die Erfolgsgesellschaft älter ist als bei uns, kommt die Devise, nichts sei erfolgreicher als der Erfolg. Sie lässt sich auch umdrehen: Nichts führt sicherer zum Misserfolg als der Misserfolg. Nichts ist so fatal wie das Image des Verlierers.

Schlechte Umfragewerte führen notwendig zu Kommentaren, die diese werten und begründen. Man muss also über wirkliche oder erdachte Schwächen reden, auch wenn diese keineswegs nur diese eine Partei zieren. Das alles kann mit und ohne Häme geschehen. Es führt meist zu noch schlechteren Umfragewerten. Die müssen wieder kommentiert werden. Und so fort. Bis einer Partei ein Verlierer-Image aufgeprägt worden ist, von dem sie kaum mehr loskommt, auch dann, wenn sie sich gar nicht so schlecht geschlagen hat.

Kümmern sich Parteien um Wähler?

Seit dem Wahlsonntag vom 30. August mag mancher fragen, was geschieht, wenn beiden Volksparteien ein Verlierer-Image aufgehängt wird. Schließlich ist der Erfolg der zweiten deutschen Demokratie nicht zuletzt ein Verdienst dieser beiden Parteien.

Und was wird aus unserer Demokratie, wenn sich bei einer Mehrheit der Eindruck festsetzt, die Parteien kümmerten sich gar nicht um das gemeine Wohl, sondern nur um ihre Umfragewerte, und sie täten immer nur das, was diese Werte steigern, nie, was sie mindern könnte, ganz gleich, was dies für unsere Gesellschaft bedeutet. Dann wäre der Weg zum System Berlusconi nicht mehr weit.

Eigentlich wäre jetzt der Diskurs darüber angesagt, wie wir jener Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken, die in den Jahrzehnten des Marktradikalismus in immer mehr Ländern, Entwicklungsländern, vor allem Schwellenländern, aber auch Industrieländern weiter fortgeschritten ist, als uns bewusst ist. Auch bei uns. Er findet nicht statt.

© SZ vom 8.9.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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