Bundesrepublik:"Das Wasser bis zum Hals"

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Florian Hubers düsteres Panoptikum der Nachkriegszeit wirkt durch die Verschränkung zahlreicher Schicksale und den Verzicht auf eine Deutung.

Von Robert Probst

Der Bund lässt 2023 die finanziellen Mittel für die Suche von Vermissten des Zweiten Weltkriegs auslaufen. Der Suchdienst des Roten Kreuzes wird sich dann aktuell drängenderen Themen widmen, etwa der Suche nach vermissten Flüchtlingen. So lautete eine Meldung vor einigen Tagen. Sie lenkte den Blick wieder mal auf die Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Das Schicksal der im Krieg Gefallenen, Verschollenen und Verwundeten bewegt noch immer zahllose Angehörige.

Und die Aufarbeitung in den Familien ist längst nicht abgeschlossen. Mancherorts fängt sie sogar gerade erst an - mit Fragen der Enkel und Urenkel. Die zehntausendfach verkauften Bücher über die Traumata der zweiten und dritten Generation beweisen das immense Interesse. Eines, das aus dieser Masse herausragt, ist das des Historikers und Filmemachers Florian Huber. Und zwar aus zweierlei Gründen: wegen seiner ungewöhnlichen Machart und wegen seines Verzichts auf psychologische Deutungen.

Huber lässt in diesem Buch Menschen zu Wort kommen, die von der Zeit nach der totalen Niederlage berichten, einfache Soldaten, NS-Verbrecher, emsige Unternehmer, einsame Frauen und verwirrte Kinder - meist aus Briefen, Tagebucheinträgen oder späteren Erinnerungen. All das verwebt er in raffinierter Weise zu einer großen Erzählung über verwundete Seelen, schweigende Väter und Mütter und kaputte Familien. Mit der Montage starker Zitate entsteht so ein recht düsteres Panoptikum der Zeit zwischen 1945 und 1958, etwa mit diesem: "Nichts wurde uns erklärt. Wir Kinder schwammen mit den Eltern in einem großen Teich, in dem niemand ertrinken wollte, alle umherruderten und sich niemand mitteilte, warum einem das Wasser bis zum Hals stand."

Das alles ist in seiner Herangehens- und Zitierweise ganz und gar unwissenschaftlich - die ausgewählten Menschen repräsentieren auch sicher nicht das gesamte Spektrum der deutschen Nachkriegszeit, was in vielen Passagen doch zu Verallgemeinerungen führt. All das aber wird aufgewogen durch den Mut zur starken Sprache (ein sehr oft verwendetes Wort ist bei Huber "Sehnsucht", das viele Historiker wohl lieber nicht in ihre Analysen aufnehmen würden) und die Kühnheit, das Erzählte für sich wirken zu lassen, anstatt dem Ganzen noch einen erklärenden Überbau zu verpassen. Die Berichte sprechen für sich - und entfalten gerade deshalb ihre besondere Wirkung.

Noch immer lagern Kisten voller Erinnerungen auf Dachböden und in Kellern, die noch nie geöffnet wurden. Geschichten von Tätern und von Opfern sinnloser Gewalt. Die Suche nach den Vermissten wird also in absehbarer Zeit enden, die Suche nach den Geschichten aus der Weltkriegszeit nicht.

© SZ vom 17.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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