Brandenburg:Die vielen Schichten der Vergangenheit

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Im brandenburgischen Jamlitz ist ein jüdischer Friedhof für Opfer eines SS-Massakers eingeweiht worden - doch viele Fragen bleiben offen.

Constanze von Bullion

Es gibt Geschichten, die nicht vergehen, und die von Jamlitz ist so eine. Man hat versucht, sie im Sand zu verbuddeln, zu vergessen, irgendwie ungeschehen zu machen. Dann hat man versucht sie auszugraben, aber auch das ist bisher nicht gelungen.

Der amtierende Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main, Menachem Halevi Klein (l.) und Peter Fischer vom Zentralrat der Juden in Deutschland. (Foto: Foto: dpa)

Viele Menschen in Jamlitz mögen diese Geschichte nicht, und wer sie kennt, kann das verstehen. Jamlitz in Brandenburg, das ist ein Dorf, in dem es noch ein paar alte Fachwerkhäuser gibt und eine Bäckerei, und seit der Mensch sich aus dieser Gegend verzieht, ist draußen in den Wäldern wieder der Wolf unterwegs.

Irgendwo zwischen Cottbus und Frankfurt an der Oder liegt dieses Dorf, in das vorn ein Straße hineinführt, vorbei an einer Siedlung von Nachkriegshäuschen und hinten wieder raus. Hier also sind im Februar 1945 die Lastwagen losgefahren, hoch beladen mit Leichen, sie sind dann in den Wald und zu einer Kiesgrube, dort hat man die Körper abgekippt, unmittelbar neben der Landstraße. Dann haben Dorfbewohner das Loch zugeschaufelt.

Zu schwach für den Todesmarsch

Am Dienstagmorgen steht Gabriel Rodan in der Grube, sie ist jetzt flacher als früher und halb mit Kiefern zugewachsen, und aus Rodan ist ein Herr von 80 Jahre geworden. Die Sonne hat ihm die Haut gegerbt und die Arthrose sitzt ihm in den Knien, im Kopf aber ist er noch flink unterwegs.

Gabriel Rodan ist gebürtiger Ungar, er lebt in Israel und war 14 Jahre alt, als er aus Auschwitz nach Jamlitz gebracht wurde. Etwa 8000 Menschen, fast alle Juden, wurden in diesem Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen unter entsetzlichen Bedingungen gezwungen, der SS einen Truppenübungsplatz zu bauen. "Es gab nichts zu essen, nur 90 Gramm Brot am Tag und Dörrgemüse", erzählt Rodan, und wenn man ihn fragt, warum er sich diese Erinnerungen noch mal antut und gekommen ist, sagt er: "Ich fühle mich leichter, wenn ich es tue."

Gabriel Rodan hat überlebt, weil er 1945, als die Rote Armee näher rückte, einen Todesmarsch von Jamlitz nach Sachsenhausen überstand. 73 seiner Angehörigen wurden von den Nazis ermordet, und doch ist er ein versöhnlicher Mensch geblieben, der sich höflich dafür bedankt, dass er dabei sein darf, als ein Rabbiner ein Totengebet anstimmt.

In der Kiesgrube hinter Jamlitz wird an diesem Dienstag ein jüdischer Friedhof geweiht, denn es liegen hier noch immer Knochenreste in der Erde, die von einem beispiellosen Massaker zeugen. Jetzt stehen hier Holocaust-Überlebende neben Vertretern des Landes Brandenburg, aber auch Förster und alte Herren mit Baskenmützen. Nur Bürger aus Jamlitz sind nicht da, jedenfalls kann der Ortsbürgermeister keine entdecken.

Es ist eben so eine Sache mit den Jamlitzern und den Dingen, die hinter ihrem Dorf auftaucht sind. 1959 ist das zum ersten Mal passiert, damals fanden Bauarbeiter in der Kiesgrube die Reste von zwölf Skeletten. Viele Leute hier wussten, woher sie stammten, aber sie schwiegen, und auch die Behörden gingen der Sache nicht nach.

Immer wieder Knochenfunde

1971 dann fand man wieder Knochen, und diesmal schaute man hin. Gerichtsmediziner und Stasi-Leute fingen damals an zu graben, und als sie fertig waren, lagen 577 Skelette in der Grube. Manche Leichen trugen Reste von Kleidern, viele hatten ein Loch im Schädel, anderen hatten die Kugeln das Genick durchschlagen. Es waren Häftlinge aus dem Außenlager Jamlitz, die zu krank und zu schwach gewesen waren für den Todesmarsch.

1342 Häftlinge sollen am 2. Februar 1945 im Lager zurückgeblieben sein, das steht in einem Gutachten, das Günter Morsch, der Leiter der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, erstellt hat. Er hat auch beschrieben, wie ein ungarischer Arzt damals den Lagerkommandanten Wilhelm Kersten angriff und die SS daraufhin alle Häftlinge ermordete.

Manche wurden, das haben Zeugen berichtet, mit Maschinengewehren niedergemäht, andere mussten auf Knien zu Wachmännern kriechen, die ihnen eine Kugel in den Kopf jagten. Es war das größte Massaker an Juden im Raum Berlin, und die Kiesgrube, in die man die Leichen schaffte, war das größte NS-Massengrab der DDR.

Die Ausgrabungen aber werfen seither immer neue Fragen auf, so als fänden die Toten keine Ruhe. Wo ist die Asche der 577 Ermordeten hingekommen, die nach der Exhumierung im Krematorium verbrannt wurden? Eine einzige Urne wurde 1973 beigesetzt, im benachbarten Lieberose, wo man eine Gedenkstätte einrichtete und, wie es so üblich war in der DDR, ermordeten Antifaschisten widmete. Kein Wort fiel da auch über mehr als 3200 Häftlinge, die nach 1945 in Jamlitz in einem sowjetischen Speziallager umkamen.

Nach der Wende sickerte dann durch, dass 1971 zwischen den Skeletten in der Kiesgrube Goldzähne gefunden worden waren. Stasi-Leute nahmen sie damals an sich, es war mehr als ein Kilo Gold und es landete schließlich im Finanzressort des DDR-Geheimdienstes. Ob die Stasi sich am Zahngold toter Juden bereichert hat, wie mal behauptet wurde, oder ob es in den Wendewirren geklaut wurde, ist bis heute ein Rätsel. Einer, der mitgeholfen hat, dass solche Dinge ans Licht kamen und die Gebeine von zwölf weiteren Häftlingen ein Grab, steht am Rand der Festgemeinde in der Kiesgrube und filmt: Andreas Weigelt ist ein schmaler Kerl mit nachdenklichem Gesicht, er ist 45, kommt aus Lieberose und hat jahrelang Dokumente zusammengetragen, die belegen, was seine Heimat so konsequent verschwiegen hat. Er ist einer von der beharrlichen Sorte und manchen Berufskollegen etwas zu eifrig, weil er bisweilen mehr zu wissen glaubt, als er belegen kann. Aber es gibt eben auch kaum einen, der wühlt wie er.

(Foto: Foto: dpa)

"Ein Stein drauf und Schluss"

Eine der Fragen, die Andreas Weigelt bis heute nicht loslassen, sorgt seit Monaten für Unruhe in Jamlitz. Wenn wirklich 1342 Häftlinge im Lager ermordet wurden, 577 in der Kiesgrube vergraben und weitere zwölf in einer Asservatenkammer der DDR zur Untersuchung verwahrt wurden, wie es im Gutachten des Gedenkstättenleiters steht: Wo sind dann die übrigen 753 Toten hingekommen?

Brandenburgs Landesregierung sucht noch nach einem weiteren Massengrab, zuletzt hat sie ein Grundstück in Jamlitz umgraben lassen, aber man hat da kein einziges Knöchlein gefunden. Das Grundstück liegt am Rand der Neuen Siedlung, das ist der Teil von Jamlitz, in dem mal das KZ-Außenlager stand.

Nach dem Krieg haben hier Flüchtlinge Häuser gebaut und die Reste der Baracken abgerissen. Wenn stimmt, was sie sich im Dorf erzählen, wurde damals auch so mancher Knochen entsorgt, der beim Ausheben der Fundamente auftauchte.

Heute leben in den Häuschen und Gärtchen hier viele Menschen mit Hunden, und es kommt schon mal vor, dass einer beißt, wenn Fremde hier Fragen stellen wollen. Die Jamlitzer sind genervt, und sie haben viel geschimpft darüber, dass hier die Vergangenheit wieder ausgegraben werden soll. Dann haben sie gehofft, dass endlich Knochen gefunden werden und wieder Ruhe einkehrt im Dorf. "Dann kommt da ein Stein drauf und Schluss", sagt ein Anwohner.

"Mehr Denkmäler, als man zählen kann"

Es ist aber nicht Schluss und das Innenministerium will jetzt auf einem weiteren Grundstück nach den fehlenden KZ-Opfern suchen. Die Rechtslage aber ist kompliziert, denn erstens gehört das Grundstück zur Hälfte einem Mann, der vor zwei Jahren hier seine Mutter erschlagen hat und im Gefängnis sitzt.

Und zweitens kann die Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg nur einen Durchsuchungsbeschluss erwirken, so lange Ermittlungen gegen mutmaßliche Täter des Massakers laufen. Kann kein Verantwortlicher mehr ermittelt werden, wird auch Schluss sein mit der Suche nach weiteren Opfern.

In Jamlitz wären wohl nicht allzu viele traurig über diese Entwicklung. "Es gibt mehr Denkmäler, als man zählen kann", sagt einer, der mal Schlosser gelernt hat, jetzt für einen Euro fünfzig das Dorf sauber hält und mit jungen Kollegen in der Bäckerei Mau-Mau spielt. Nein, sagt er, er hat nichts dagegen, dass "Juden aus dem Ausland" jetzt oben im Wald stehen und einen Friedhof einweihen, aber er hat etwas dagegen, dass das Land so viel Geld ausgibt für diese Sucherei nach Knochen.

An der Hauptstraße steht eine alte Dame und stützt sich auf einen Stock. Sie ist nach dem Krieg aus dem Sudetenland hergekommen, erzählt sie, "da waren sie auch nicht nett zu uns". Natürlich haben die Menschen in Jamlitz gewusst, "was da weggefahren worden ist"; sie meint die Leichen und die Grube. Aber dass dort ein jüdischer Friedhof eingeweiht wird? Sie schüttelt den Kopf. "Wir kennen die Leute doch gar nicht", sagt sie leise.

Oben im Wald, wo Gabriel Rodan steht und mit der Erinnerung kämpft, haben die Menschen nun ihre Kränze niedergelegt. Diesen Ort zu pflegen, ist eine ehrenhafte Aufgabe, hat ein Shoah-Überlebender gesagt, "sie kann als Chance begriffen werden." In der Grube, die jetzt ein Friedhof ist, hängt der schwere Duft von Lilien.

© SZ vom 17.06.2009/liv - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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