Brandenburg:Brandenburger Harmoniker

Lesezeit: 4 min

Bei der Eröffnung des Brandenburg-Tages auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin im Januar gab Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) den Takt an. Damit das auch bei der Landtagswahl in sechs Monaten der Fall ist, tourt er gerade durchs Land. (Foto: Ralf Hirschberger/picture alliance/dpa)

Er fährt von Ort zu Ort und fordert Breitband bis an jede Milchkanne: Nur noch wenige Monate bleiben Ministerpräsident Dietmar Woidke, um die Wähler des Landes wieder für seine SPD zu gewinnen.

Von Jens Schneider, Cottbus

Der Abend im Saal des Kunstmuseums "Dieselkraftwerk" zu Cottbus ist offen für alle. Jeder darf Fragen stellen, jede Frage. So steht es in der Einladung des Ministerpräsidenten, die Stuhlreihen sind voll besetzt, hinten stehen Männer und Frauen dicht beieinander. Die meisten werden bis zum Ende ausharren. Man könnte annehmen, dass sich etwas entladen wird - jene Wut, von der zuletzt oft die Rede war, im Osten, gerade hier in der zweitgrößten Stadt Brandenburgs. Bei der Begrüßung erinnert Oberbürgermeister Holger Kelch daran, dass in Cottbus vor einem Jahr "etwas zu kippen drohte, was wir als sozialen Frieden bezeichnen".

Dies ist Station acht eines Bürgerdialog-Marathons, mit dem Ministerpräsident Dietmar Woidke sechs Monate vor der Landtagswahl darum kämpft, das Land wieder für sich zu gewinnen. Fast jede Woche besucht der 57-Jährige einen Landkreis, oft mit dem ganzen Kabinett. Ob nun in der Uckermark oder in Perleberg - wo die Regionalzeitung schrieb, "dass die ganze Prignitz auf den Beinen war" - wollen sie zeigen, dass die Regionen abseits des Speckgürtels um Berlin wichtig sind.

Dort könnte Woidkes SPD ihre seit mehr als einem Vierteljahrhundert währende Dominanz in Brandenburg einbüßen. Seit dem Ende der DDR stellt sie den Ministerpräsidenten. Der 57-jährige Agraringenieur Woidke aus der Lausitz regiert seit August 2013 eine rot-rote Regierung. Noch bei der letzten Wahl 2014 lag seine SPD bei 31,9 Prozent und fast neun Prozentpunkte vor der zweitstärksten Partei, der CDU. Zuletzt konnten die Sozialdemokraten froh sein, wenn sie in Umfragen vorn lagen, vor der CDU und der AfD, die sich Hoffnungen macht, stärkste Fraktion zu werden.

Wenn dieses Land vor einem politischen Erdbeben stehen sollte, könnte die Stadt Cottbus das Epizentrum sein. So sah es zumindest noch vor einigen Monaten aus. Da demonstrierten aufgebrachte Bürger nach Aufrufen einer als fremdenfeindlich bekannten Initiative gegen die Flüchtlingspolitik. Als Auslöser für die Proteste nannten sie einzelne Angriffe von Syrern auf Einheimische. Zugleich mehrten sich Attacken auf Geflüchtete. In Cottbus wollten damals laut einer Umfrage 30 Prozent AfD wählen. Im Rathaus sah man sich vergessen von der Landesregierung in Potsdam, als wäre die prosperierende Hauptstadt nicht zwei Zugstunden entfernt, sondern in einem anderen Orbit. Es sei, sagt der Oberbürgermeister, große Unruhe in Cottbus zu spüren gewesen.

Ein Jahr später herrscht an diesem Abend, um im Bild zu bleiben, eine große Ruhe, was nicht daran liegt, dass alle zufrieden wären. So sorgt sich die Bürgerinitiative "Schönes Cottbus" um einen Platz, den ihr Sprecher einen Schandfleck nennt. Ein älterer Herr beklagt die schlechte Bahnverbindung ins nahe Polen, einer Mutter fehlt die Nachmittagsbetreuung für ihre Tochter. Viele Männer sorgen sich, dass der Ausstieg aus der Braunkohle eine Menge Arbeitsplätze kosten wird. Aber dabei geht es sachlich zu wie in der Bürgersprechstunde einer Gemeinde, nur dass vorn eben der Regierungschef und Minister sitzen.

Zeit scheint keine Rolle zu spielen. Zwei Stunden seien angesetzt, lautete vorher die Auskunft aus der Staatskanzlei in Potsdam, und: "danach Einzelgespräche bis das Licht ausgeht". Ausdauernd steht Woidke neben der Moderatorin, die er mit seiner enormen Körpergröße weit überragt. Jede seiner Antworten ist von der Idee geprägt, dass keiner zurückgelassen werden solle. "Wir brauchen Breitbandausbau bis an jede Milchkanne", sagt er und zählt Namen von Dörfern auf: Alle bräuchten eine gute Verbindung.

Stets hieß die Klage: Die in Potsdam interessieren sich nicht für uns - bis der Innenminister mehr Polizisten schickte, Sozialarbeiter und Geld versprochen wurden. Heute gehe es in der Stadt "sichtbar entspannter" zu, sagt der Oberbürgermeister von der CDU. Er freut sich an diesem Abend, dass sein Haushalt ihm wieder Spielraum lässt, etwa um verdiente Kräfte der Berufsfeuerwehr nach Jahren des Wartens zu befördern. Die klamme Stadt kriegt mehr Geld vom Land, sie soll entschuldet werden.

Woidke und seine rot-rote Regierung können beachtliche Wirtschaftsdaten vorweisen. Brandenburgs Wirtschaft boomt, die Arbeitslosenquote ist im Land auf 6,5 Prozent gesunken und damit so niedrig wie zuletzt 1991. Der linke Finanzminister Christian Görke kommt ohne neue Schulden aus, es wurde sogar getilgt. Aber was hilft das, wenn die Leute in Städten und Dörfern jenseits von Potsdam sich vernachlässigt fühlten?

Gut ein Jahr ist es her, dass Woidke mit einer spektakulären Entscheidung den Schalter umlegte. Im Herbst 2017 blies er eine über Jahre geplante Kreisgebietsreform ab. Sie sollte die Verwaltung straffen, Kosten sparen. Aber er konnte am großen Widerstand in den Regionen ablesen, wie groß die Furcht ist, weiter abgehängt zu werden. Nun lautet seine Botschaft, dass der Brandenburger Adler, das Wappentier, überall präsent sein soll, mit Ansprechpartnern in Dörfern und Städten.

Bei den Bürgerdialogen wird Flüchtlingspolitik nur selten angesprochen

So bekommt Cottbus im April ein "Sicherheitszentrum", das für sichtbare Polizeipräsenz steht. Der mit dem Bund erzielte Kohlekompromiss ist für Woidke ein Signal, dass der "Strukturbruch in der Lausitz verhindert werden konnte". Der Ausstieg aus der Braunkohle wird durch Milliardenzuschüsse aufgefangen. Landesweit will er mit Investitionen in Kitas und Schulen oder den Nahverkehr dem Gefühl vom abgehängten Osten begegnen.

Woidke ging 1990 selbst für zwei Jahre zur Arbeit nach Loiching in Bayern und kehrte schnell in die Heimat zurück. Er setzt häufiger als früher auf die Ost-Karte, und die SPD-Brandenburg hat eine eigene Ostdeutschland-Kommission gegründet. Sie soll sich "mit den strukturellen Unterschieden in Ostdeutschland in Bezug auf Löhne, Arbeitszeiten, Tarifgebiete, Renten, Repräsentanz sowie deren Entstehung befassen". Es könne nicht sein, sagt Woidke, "dass die Renten- und Lohnmauer länger steht, als die Mauer in Berlin je stand".

Das dürfte auch als eine Antwort auf die AfD gedacht sein, die im Wahlkampf in Brandenburg bevorzugt auf soziale Fragen setzen will. Die Flüchtlingspolitik gerät zunehmend in den Hintergrund. Bei Woidkes Tour wird sie selten angesprochen, in Cottbus nur einmal. Woidke hat sich auf die Frage, warum nicht konsequenter abgeschoben werde, eine Antwort zurechtgelegt. Es gebe viele Menschen, die aus verschiedenen Gründen besonderen Schutz genießen und zu Recht bleiben dürften, erklärt er. "Aber Menschen, die diesen Schutzstatus nicht haben, müssen dieses Land wieder verlassen." Einige Zuhörer applaudieren, bevor er den Gedanken fortsetzt: "Ich bin aber dafür, auch zu gucken, wie sich Menschen integrieren", sagt er. Jeden Tag bekomme er Post von Unternehmern, die um Hilfe bitten, weil Mitarbeiter fehlen. "Die sagen mir: Hier ist ein junger Mann, der ist aus Eritrea, der hat kein Asyl gekriegt, der müsste eigentlich wieder zurück. Aber der ist bei mir in der Ausbildung. Ich will den behalten."

Danach will ein junger Vater wissen, warum es für Schüler der zweiten Klasse keine Zeugnisse mit echten Noten mehr gebe. Wie solle sein Kind wissen, ob es gut in der Schule sei? Die Bildungsministerin nimmt sich seiner an. Der Abend geht mit ruhigen Einzelgesprächen zu Ende. Erst der Herbst wird zeigen, ob diese Ruhe für Woidke ein gutes Zeichen ist.

© SZ vom 04.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: