Bosnien Herzegowina:"Die Leute laufen von hier weg"

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Eine muslimische Frau an der Gedenkstätte des Massakers von Srebrenica. (Foto: Fehim Demir/dpa)

Valentin Inzko, 71, wacht als Hoher Repräsentant über die Umsetzung des Abkommens von Dayton, das vor 25 Jahren Frieden auf den Balkan brachte. Nun fordert er mehr internationales Engagement, denn: "Eingefrorene Konflikte bleiben nicht ewig eingefroren."

Von Tobias Zick, München

Am 14. Dezember 1995 wurde in Paris das Dayton-Abkommen ratifiziert, das den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendete. Zugleich schrieb es die im Krieg betriebene ethnische Teilung fest - und ermöglicht es bis heute Nationalisten, die staatlichen Institutionen zu blockieren. Der österreichische Diplomat Valentin Inzko, 71, wacht als Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina über die Umsetzung des Dayton-Abkommens - und fordert mehr internationales Engagement.

SZ: Am kommenden Montag vor 25 Jahren wurde das Dayton-Abkommen unterzeichnet, das Bosnien-Herzegowina befriedet hat. Sind Sie in Feierstimmung?

Valentin Inzko: Ja und nein. Es hatte vor dem Abkommen insgesamt 30 Waffenstillstände gegeben, und dann hat Dayton endlich den wirklichen, dauernden Waffenstillstand gebracht, bis heute. Am Hindukusch, in Libanon, im Gazastreifen gibt es Generationen, die haben nie Frieden erlebt. Verglichen damit müssen wir natürlich sehr zufrieden sein mit diesem Vertrag. Aber der Friede war nur der Anfang, nicht das Ende.

Das Land ist vordergründig friedlich, aber die Rhetorik dahinter ist mitunter das Gegenteil davon. Der Präsident der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, hat Sie kürzlich vor dem UN-Sicherheitsrat als "Monster" bezeichnet.

Ja, er hat mich auch schon einen Kriminellen genannt, einen Viehhändler, eine Prostituierte. Die Jugendorganisation seiner Partei hat mir 5000 Postkarten geschickt mit dem Slogan: Inzko go home. Auf 20 davon standen auch Morddrohungen, eine davon war gegen meinen Sohn gerichtet. In mangelhaftem Deutsch, aber schlimm genug.

Warum hasst er Sie?

Ich stehe ihm im Weg. Er will eine Abspaltung der Republika Srpska von Bosnien-Herzegowina, er hat von einem Referendum gesprochen, er sagt, es gebe "zwei serbische Staaten". Er fordert einen "RS-Exit", nach Vorbild des Brexit. Er will die Institutionen aushöhlen und den internationalen Einfluss schwächen. Dass er mich persönlich loswerden möchte, ist mir egal, es geht ihm vor allem um mein Amt, das internationale Büro des Hohen Repräsentanten - und um die drei europäischen Richter, die gemäß Dayton-Abkommen im Verfassungsgerichtshof sitzen, darunter eine angesehene deutsche Professorin. Sie verhindern, dass Dodik oder andere den Staat von innen zerstören, sozusagen auf legalem Wege zerstören oder schwächen. Einen Höhepunkt unserer Auseinandersetzungen gab es nach der UN-Sicherheitsratssitzung am 5. November, als ich ihn aufgefordert habe, eine von ihm in einem Studentenheim enthüllte Gedenktafel zu Ehren des Kriegsverbrechers Radovan Karadžić zu entfernen. Zähneknirschend hat er dieser Tage nachgegeben.

"Aber der Friede war nur der Anfang, nicht das Ende": Der österreichische Diplomat Valentin Inzko wacht über den Frieden in Bosnien-Herzegowina. (Foto: Elvis Barukcic/AFP)

Kritiker bezeichnen ja den durch Dayton begründeten Zustand als "eingefrorenen Krieg".

Die Formulierung finde ich treffend. Und in Nagorno-Karabach sehen wir gerade: Eingefrorene Konflikte bleiben nicht ewig eingefroren. Deshalb müsste sich die internationale Gemeinschaft hier in Bosnien-Herzegowina wieder viel stärker engagieren. So wie in der ersten Phase nach Dayton, da waren wir sehr robust und präskriptiv präsent. In der zweiten Phase, seit etwa zwölf Jahren, setzt man mehr auf lokale Verantwortung. Diese Jahre waren weniger glorreich.

Dieser Zustand des Eingefrorenseins spiegelt sich auch in der Bevölkerung. Laut Statistiken der Vereinten Nationen ist Bosnien-Herzegowina das Land mit dem geringsten Bevölkerungswachstum weltweit. Etliche junge Menschen wandern aus.

Ja, die allseits beliebte Angela Merkel gilt als die größte Arbeitgeberin der Bosnier; viele haben in Deutschland eigene Firmen, es gibt Ärzte, Ingenieure. Die ausgezeichnete Justizministerin Österreichs, Alma Zadić, stammt ebenfalls aus Bosnien. Aber diese Menschen fehlen zu Hause. Wir haben hier eine schöne Natur, organische Lebensmittel, sympathische Leute - wenn wir all diese Talente hier behalten könnten, was wäre das für ein fantastisches Land.

Was müsste dazu geschehen?

Wir brauchen Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung. Wir sollten auch den deutsch-französischen Versöhnungsprozess kopieren. Die Leute laufen von hier weg, nach Europa. Sie wollen alle nur normal, menschenwürdig leben, mit guten Spitälern und guten Schulen für ihre Kinder. Mit Bedingungen, unter denen man die Zukunft planen kann.

Sie wünschen sich wieder ein robusteres Mandat für Ihre Arbeit. Glauben Sie wirklich, dass man die Probleme dieses Landes von außen lösen kann?

Ich bin selbst als Angehöriger der slowenischen Minderheit in Kärnten geboren, wir hatten dort sehr viele Nationalsozialisten. Die Briten haben nach 1945 erfreulicherweise den obligatorischen zweisprachigen Unterricht eingeführt. Im Jahr 1955 zogen sie ab - und vier Tage später wurden wieder sogenannte Heimattreue Organisationen gegründet, die mit Streiks durchsetzten, dass dieser wunderbare zweisprachige Unterricht abgeschafft wurde. Von 13 000 Südkärntnern, die den besucht hatten, blieben 1200 übrig, die ihn freiwillig machten, ich war einer von denen. Hätten die Briten dort zumindest einen aktiven Monitoring-Mechanismus hinterlassen, dann hätten sie die Abschaffung dieses vorbildlichen Unterrichtsmodells verhindern können. Aus eigener Erfahrung bin ich deshalb ein großer Befürworter der internationalen Präsenz dort, wo sie notwendig ist.

Die internationale Gemeinschaft ist sich in Bezug auf Bosnien alles andere als einig. Milorad Dodik etwa genießt kräftige Unterstützung Moskaus.

Ja, Präsident Putin hat Dodik bereits zehnmal getroffen, Russlands Außenminister Lawrow dreimal. Und er kommt am 14. Dezember, zum Jahrestag des Dayton-Abkommens, wieder nach Bosnien. Seinerzeit in Dayton haben die Russen eine sehr konstruktive Rolle gespielt, haben auf Slobodan Milošević (damals Machthaber in Jugoslawien, Anm. d. Red.) eingewirkt. Die heutige russische Führung ist nun auf ihre Weise hier sehr präsent. Da frage ich mich allerdings auch: Wo sind, mit Ausnahme der EU, westliche Politiker, die auch Zeit haben für Bosnien-Herzegowina?

Es gibt andere, heißere Konfliktherde.

Natürlich, aber wir hatten kürzlich vier Morde in Wien: Der Täter kam aus Nordmazedonien, er traf ein paar Tage vorher einen jungen bosnischen IS-Anhänger, die Waffen kamen vom Balkan. Schon aus eigenem Interesse müssten wir doch sagen: Dies ist unsere Nachbarschaft, dort beginnt unsere Sicherheit.

Nicht nur die EU, auch die USA haben in den vergangenen Jahren eine mäßig konstruktive Rolle in Südosteuropa gespielt. Die Trump-Regierung hat sich etwa für einen Gebietstausch entlang der Grenze zwischen Serbien und Kosovo starkgemacht.

So etwas würde eine Lawine in der Region auslösen. Nicht nur hier in Bosnien. Ich bin, wie Bundeskanzlerin Merkel, strikt gegen Landtausch jeder Art. Mir schwebt eher langfristig so eine Lösung wie in Südtirol vor. Vor 60 Jahren gab es dort Bombenattentate, heute sind die Grenzen zwischen Nord- und Südtirol offen, alle leben unter einem Dach, dem europäischen. Es gibt die vier Freiheiten und eine Währung. Aber die Grenzen bleiben unverändert, das ist ganz wichtig.

Wird sich unter der neuen US-Regierung etwas ändern?

Im kommenden Jahr haben wir eine tolle Konstellation: BBB - Biden, Berlin, Brüssel. Die wird sich nie mehr wiederholen; es gibt ja immer weniger Persönlichkeiten, die in Dayton dabei waren, auch Deutsche, und sich noch engagieren wollen. Joe Biden war selbst während des Krieges und zweimal danach hier in Bosnien. Wir hatten 2009 ein gutes Gespräch. Er hat schon Tito und Milošević getroffen. Ich denke, er wird ein kompetentes Team zusammenstellen, das sich mit Bosnien-Herzegowina befassen wird, um diesen Friedensprozess zu Ende zu führen. Zugleich sehe ich auch in Europa, besonders in Deutschland, verstärktes Interesse. Außenminister Heiko Maas sagte kürzlich in einer tollen Rede, dass Länder, in denen Kriegsverbrecher verherrlicht werden, keinen Platz in der EU hätten. Die Europäer sollten auch Sanktionen gegen Individuen vorbereiten, die Kriegsverbrechen glorifizieren.

Damit wären aber noch nicht die strukturellen Probleme des Staates gelöst: die ineffiziente Verwaltung, die Blockade der Institutionen durch einzelne Politiker.

Stimmt, dafür bräuchte es eine Verfassungsreform, der letzte Versuch im Jahr 2009 ist knapp gescheitert. Seither fürchten sich die internationalen Partner, so etwas wieder vorzuschlagen. Aber mit der neuen Biden-Regierung, mit neuem Engagement aus Europa wäre jetzt eine günstige Zeit dafür. Man muss das robust und mit klaren Vorgaben angehen - und mit konkreten Fristen.

Da ist noch einiges zu tun. Wie lange werden Sie noch in Ihrer Wahlheimat Sarajevo bleiben?

Ich fühle mich hier wirklich sehr wohl, andererseits möchte meine Frau mich gern zu Hause haben. Aber reden wir bitte nicht über mich. Ich hoffe, dass das Büro des Hohen Repräsentanten noch zehn bis 15 Jahre bleibt. Irgendwann wären wir dann bei den 45 Jahren der Anwesenheit der Alliierten Kräfte in Deutschland. Für so eine Aussage werden mich wieder viele anfeinden. Aber die Frage ist doch: Haben wir ein lebensfähiges, prosperierendes Bosnien, mit guter Regierungsfähigkeit und Rechtsstaatlichkeit? Dann wird die Schließung des Büros ganz automatisch kommen.

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