Beteiligungsverfahren:Wenig gelernt aus Stuttgart 21

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Viele Menschen fühlten sich bei der Planung von Stuttgart 21 übergangen. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Nach den Protesten gegen das Bahnprojekt sollten Bürger leichter mitreden dürfen bei Infrastrukturvorhaben - auch digital. Doch das kommt offenbar nur zäh in Gang.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Ohne den "Wutbürger" kam 2010 kein Jahresrückblick aus. Die Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hatten im Herbst ihren Höhepunkt erreicht, ein groß angelegtes Schlichtungsverfahren musste die Gemüter beruhigen. Es sollte jene Beteiligung der Öffentlichkeit nachholen, um die sich viele Bürger geprellt fühlten. Überhaupt sollte vieles besser werden nach den Konflikten um den Stuttgarter Bahnhof: mehr Mitsprache für Bürger, mehr Transparenz für große Projekte. Zehn Jahre ist das her.

Zumindest auf dem Papier ist seitdem eine ganze Menge geschehen. 2011 schon schärfte die EU die Vorgaben für die Beteiligung der Öffentlichkeit, drei Jahre später gleich noch einmal: Fortan sollten Bürger auch auf digitalen Kanälen in die sogenannte Umweltverträglichkeitsprüfung, kurz UVP, einbezogen werden - "wenigstens über ein zentrales Portal oder über einfach zugängliche Zugangspunkte", wie es in der Richtlinie hieß. Im Sommer 2017 traten die entsprechenden Gesetzesänderungen auch in Deutschland in Kraft. Was aber haben sie verändert?

Zwei Jahre lang hat sich das Berliner Unabhängige Institut für Umweltfragen (UfU) mit dieser Frage befasst, die Recherche war aufwendig. Schon die Frage, wie viele Infrastrukturprojekte in diesem Land laufen, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Zentrale Zahlen gibt es nicht, und befasst sind damit alle möglichen Behörden von Bund, Ländern und Gemeinden. In einigen Ländern erhalten Umweltverbände automatisch die Unterlagen zu geplanten Projekten, um sich in die Umweltprüfung einbringen zu können, in anderen nicht. Am Ende kamen die UfU-Leute auf 2000 Verfahren im Jahr 2018. "Und die Zahl ist noch konservativ abgeschätzt", sagt Geschäftsführer Michael Zschiesche. "In Wahrheit dürften es mehr sein."

Mehr Transparenz gibt es 2023 - das verlangt Brüssel

Wie viele Verfahren dagegen tatsächlich auch auf digitalem Weg an die Bürger kamen, ließ sich für das Institut leicht herausfinden: 190. Das war, im Jahr 2018, nicht einmal jedes zehnte. Nach allen anderen Projekten mussten Bürger demnach in Amtsblättern oder ähnlichen Publikationen fahnden. 2019 stieg die Zahl der digitalen Verfahren auf 450, und auch für 2020 geht das Umweltinstitut von einer buchstäblichen Dunkelziffer aus. Fest stehe, dass nicht annähernd das online ist, was Bürgern im Internet zugänglich sein müsste, sagt Zschiesche. "Und das zehn Jahre nach Stuttgart 21."

Die nötigen Internetportale gibt es mittlerweile. Die Länder haben einen "UVP-Verbund" eingerichtet, über den sie Vorhaben online einstellen. Für den Bund und seine Behörden führt das Umweltbundesamt ein entsprechendes Portal. Es seien keine Fälle bekannt, in denen Bundesbehörden ihre Projekte nicht eingestellt haben, heißt es dort. "Richtig ist, dass die Zahl der in das UVP-Portal des Bundes eingestellten Projekte 2020 deutlich zugenommen hat", sagt ein Sprecher des Umweltbundesamtes. Allerdings habe es für ältere Projekte auch Übergangsregeln gegeben, manche seien sogar älter als die Verschärfungen der Regeln. Die Beteiligung der Öffentlichkeit kann hier weiterhin den virtuellen Raum umgehen.

Wie viele Projekte deutsche Behörden aber mehr oder weniger bewusst an der digitalen Öffentlichkeit vorbeischleusen, darüber tappen selbst die Experten beteiligter Behörden im Dunkeln. Mehr Transparenz darüber gibt es erst 2023. Dann verlangt Brüssel Klarheit, wie viele Verfahren mit öffentlicher Beteiligung es in diesem Land gibt - und wie diese Beteiligung abläuft.

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