Berlin:Löwenkopf gesucht

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Die Quadriga vom Brandenburger Tor entsteht ein drittes Mal.

Von Boris Herrmann

In Kürze wird das erste Pferd fertig sein. Den Körper haben sie in monatelanger Fisselarbeit bereits zusammengesetzt und auf seine vier Beine gestellt. Kopf und Schweif liegen noch nebenan auf der Werkbank, bereit zur Endmontage. Man steht hier im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestags also vor diesem kopflosen Gaul aus Gips, gewissermaßen auf Augenhöhe mit der Geschichte, und man kann nachvollziehen, dass Andreas Kaernbach nachhaltig ergriffen ist. Der Kurator der Kunstsammlung im Bundestag spricht von einem der "bildmächtigsten Bildwerke, die wir in Deutschland haben".

Weltweit bekannt ist das Pferd, das hier entsteht, in seiner Kupfervariante. Es ist das zweite von links der Quadriga auf dem Brandenburger Tor. Von den Millionen, die dort seit der Wende schon hindurchgeschlendert sind und ihre Selfies schossen, ahnen vermutlich die wenigsten, dass sie eine Replik bestaunt haben. Das Original des Bildhauers Johann Gottfried Schadow aus dem 18. Jahrhundert wurde 1945 von den Befreiern Berlins zerstört. In Kooperation des Bundestags mit der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin und dem Landesdenkmalamt wird die Quadriga derzeit also zum dritten Mal erschaffen. Kaernbach sagt: "Was hier rekonstruiert wird, ist näher dran am Original als das, was auf dem Brandenburger Tor steht."

Dass dort heute überhaupt etwas stehen kann, was Schadows Werk nahekommt, ist einer mutmaßlichen Geheimaktion aus dem Jahr 1942 zu verdanken. Damals wurden Schutzabformungen der Quadriga angefertigt, so diskret wie möglich, es sollte schließlich niemand auf die Idee kommen, dass sich Nazideutschland auf eine etwaige Kriegsniederlage vorbereitet.

Im Januar 1957, mitten im Kalten Krieg, berichtete der Berliner Tagesspiegel dann unter der Überschrift "Es hängt ein Pferdebauch im Flaschenzug" über einen bemerkenswerten Deal: "Ost-Berlin baut das Brandenburger Tor wieder auf, West-Berlin liefert die Quadriga dafür." Der Osten war mit seinem Teil der Abmachung schneller fertig, deshalb herrschte unter den westlichen Kunsthandwerkern am Ende höchste Eile. Aus den Negativen von 1942 wurden Gipsmodelle erstellt, die wiederum als Vorlagen dienten für die Kupfertreiberarbeit, die seit 1958 oben auf dem Tor thront. Nicht nur weil diese Version der Victoria mit ihrem Vierspanner bei der ersten Silvesterfeier nach dem Mauerfall 1989 übel zugerichtet wurde, sind die Gipsabgüsse also näher dran an der Urform als die allseits bekannte Quadriga.

Jahrzehntelang kümmerte sich niemand um das historisch wertvolle Gipsmodell, das in Einzelteilen und Bruchstücken, von Fledermäusen umflattert, unter anderem in den Katakomben unterm Kreuzbergdenkmal im Viktoriapark vor sich hin moderte. Nun wird es in einer auf zwei Jahre angelegten Schau-Werkstatt im Lüders-Haus erstmals zusammengesetzt. Noch sind nicht alle Teile aufgetaucht. Der Gipskunstformer Timo Klöppel sagt: "Wir suchen noch den Löwenkopf von der Deichsel."

Sollte also irgendwo im Berliner Untergrund jemand zufällig auf ein Gipslöwengesicht stoßen: Bitte beim Deutschen Bundestag abgeben.

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