Belarus:Die Not des Nachbarn ist Putins Glück

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„Belarus ist nicht Russland“: Demonstranten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew warnen vor zu viel Einflussnahme Moskaus in Minsk. (Foto: Valentyn Ogirenko/Reuters)

Wann immer es für Belarus eng wurde, hat der Kreml geholfen. Doch Schritte zu einer Vereinigung verweigerte Lukaschenko stets. Nun ist er geschwächt - und Moskau hofft auf mehr Einfluss.

Von Silke Bigalke, Moskau

Alexander Lukaschenko macht sich keine Illusionen darüber, wie der Kreml zu ihm steht. Moskau habe wohl nichts dagegen, sagte der belarussische Machthaber noch vor den Wahlen, dass er, Lukaschenko, Präsident bliebe. Aber "auf die Knie zwingen und ein wenig biegsamer" machen wolle man ihn schon. Ein ukrainischer Journalist hakte nach: Ob die Russen ihn satt hätten? "Sicher", antworte Lukaschenko, nicht die Russen, aber die "russische Führung". Er weiß, dass seine Launen Wladimir Putin nerven. Er weiß auch, dass der russische Präsident bisher keine Alternative zu ihm hat.

Nun ist Lukaschenko quasi auf den Knien nach Sotschi zum "großen Bruder" gekommen, so nennt er Putin gelegentlich. Lukaschenko ist zwar nicht älter, aber doch der dienstältere Präsident nach 26 Jahren an der Macht. Weil die Massenproteste in Belarus gegen ihn nicht abebben, braucht er Putins Hilfe. Für den Kremlchef ist die Not des Nachbarn eine Gelegenheit.

Seit fast 20 Jahren drängt er Lukaschenko zu einer engeren politischen Integration, zu einem echten Unionsstaat. Genauso lange steht Lukaschenko vor dem Dilemma, dass er politisch unabhängig bleiben will, sein Land wirtschaftlich jedoch stark abhängig von Russland ist.

Fast 40 Prozent aller belarussischen Exporte gehen nach Russland

Seit Jahren drehen sie sich im Kreis: Lukaschenko verweigert Putin weitere Schritte hin zu einer Vereinigung. Der Kreml reagiert, indem er Belarus wirtschaftliche Gefälligkeiten entzieht. Lukaschenko droht dann zuweilen damit, sich neue Partner zu suchen. Doch eigentlich weiß Putin, dass nicht viel dahinter steckt. Alle Anläufe des belarussischen Machthabers, sich der EU anzunähern, führten zu nichts. Lukaschenko, der mit größerer Gewalt und mehr Vollmachten in Belarus herrscht als Putin in Russland, ist trotz seiner Launen berechenbar genug für den Kreml. Der hält lieber an ihm fest, als Veränderung zu riskieren. Wann immer es eng wurde für Lukaschenko, während der Finanzkrise 2011 oder den Massenprotesten gegen eine neue Abgabe in Belarus 2017, half der Kreml. Lukaschenkos aktuelle Krise ist keine Ausnahme: Am Montag versprach Putin ihm einen Kredit von knapp 1,3 Milliarden Euro.

Die beiden Präsidenten kennen sich lange. Als in den Neunzigerjahren der Vertrag über einen Unionsstaat entstand, hoffte Lukaschenko noch, die Verbindung öffne ihm den Weg in den Kreml. Bis heute ist er vor allem bei älteren Russen beliebt, weil Lukaschenko in Belarus ein sozialistischeres System bewahrt hat als Moskau nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland. Lukaschenkos Hoffnung zerschlug sich, als Putin 2000 Präsident wurde.

Der Vertrag sieht einen gemeinsamen Markt, gemeinsame Grenzen, eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Verteidigungspolitik, die Harmonisierung der Gesetze vor. Jeder Staat sollte sein Oberhaupt und seine Souveränität behalten. 2002 verblüffte Putin den belarussischen Präsidenten, als er von der Möglichkeit sprach, einen einzigen Staat zu schaffen, mit einem Parlament und einem Staatsoberhaupt. Das sei die "gradlinigste und konkreteste" Option. So ein Staat müsste zudem auf Grundlage der russischen Verfassung aufgebaut sein, sagte Putin damals, weil Russland eine Föderation sei und Belarus eben nur ein einzelner Staat. Belarus wäre dann russisches Föderationssubjekt. Putin ließ keinen Zweifel, dass eine Integration zu seinen Bedingungen ablaufen würde.

Für Lukaschenko kam das nicht infrage. Die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau wurden danach nicht einfacher, und wirtschaftlich saß Moskau stets am längeren Hebel. Die jährlichen Kredite, die es dem kleinen Nachbarn gewährte, wurden kleiner. Vor allem aber schmerzte es Belarus, als der Kreml sein Steuersystem für Erdöl änderte. Bis dahin bezog es russisches Rohöl zollfrei, raffinierte und verkaufte es mit großer Marge weiter. Ein Vorteil, der verschwand, als Moskau statt der Exporte die Förderung von Rohstoffen besteuerte, und die russischen Förderunternehmen diese Steuer an Belarus weitergaben. Er werde so knapp elf Milliarden Dollar in nur sechs Jahren verlieren, schimpfte Lukaschenko Ende 2018 und drohte, sich andere Anbieter zu suchen. Trotzdem bezieht Belarus weiterhin 80 Prozent seines Energiebedarfs aus Russland.

Das ist nicht alles. Fast 40 Prozent der belarussischen Exporte gehen nach Russland, Milchprodukte, Fleisch und andere Lebensmittel, aber auch Lastwagen, Traktoren. Für sie ist Russland der einzige Abnehmer. Zudem suchen immer mehr Belarussen dort Arbeit. Allein 2019 zogen 160 000 von ihnen für einen Job nach Russland um. Das sind viele, denn das Land hat nur neun Millionen Einwohner. Für Putin wiederum wäre Belarus ein nützlicher Außenposten. Es gibt zwar ein Verteidigungsbündnis, die Armeen üben oft gemeinsam, die Russen habe eine Warnstation für Raketenangriffe und ein Marinekommunikationszentrum auf belarussischem Boden, mit dem sie ihre Atom-U-Boote erreichen können. Doch gegen eine russische Militärbasis wehrt sich Lukaschenko bisher.

Insofern ist Belarus für Putin vor allem wegen einer Sache wichtig: als Beispiel für gute Beziehungen zwischen Moskau und anderen früheren Sowjetrepubliken. Hätte sich Lukaschenko nach der Annexion der Krim auf Putins Seite gestellt, wäre das ein starkes Zeichen gewesen. Lukaschenko verweigerte ihm auch das. Den Machthaber fallen lassen und den belarussischen Wählern recht geben kann Putin trotzdem nicht. Lukaschenko "ist der legitime Präsident der Republik Belarus und vis-a-vis zu Präsident Putin", sagte Kremlsprecher Dmitrij Peskow. Heißt auch: Wenn man Lukaschenko wegprotestieren könnte, versuchten das die Wähler womöglich demnächst bei Putin.

© SZ vom 16.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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