Begegnung mit Gudrun Ensslin:Ein kleiner Revolver

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"Du, ich glaube, die Frau ist Gudrun Ensslin." - "Ach was, du spinnst ja!" Wie die RAF-Terroristin kurz vor ihrer Verhaftung bei der Autorin Sibylle Nabel-Forster auf einen Tee vorbei kam.

An einem späten Winterabend im Jahr 1971 erhielt ich überraschenden Besuch. Eigentlich galt der Besuch gar nicht mir, sondern meinem Freund.

"Sie sah aus, wie auf den Fahndungsfotos": RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. (Foto: Foto: dpa)

Es war kurz vor Mitternacht. Der zurückliegende Tag war in mehrfacher Hinsicht unvergesslich: Termin zur Abgabe meiner Magisterarbeit. Schluss mit dem immer wieder neuen Abtippen von fehlerhaften Seiten, Schluss mit durchgearbeiteten Nächten mit Hilfe von Roth-Händle-Zigaretten und Nescafé.

Um neun Uhr morgens hatte ich mein Werk zum Einbinden gebracht und es kurz vor zwölf in der Poststelle der Hamburger Universität abgegeben, gerade noch fristgemäß. Ich rief meinen Professor an. Bis zum mündlichen Examen dauere es wohl drei Monate, meinte er. Endlich frei! Das musste gefeiert werden.

Ich lud Jochen, meinen Freund und damaligen Lebensgefährten, zum Essen in unsere Stammkneipe "Cuneo" in der Davidstrasse in St. Pauli ein. Wir machten Reisepläne: Auf einer mehrwöchigen Reise wollten wir durch Frankreich und Spanien und dann per Schiff zu den Kanarischen Inseln hin zum Hippiedorf Playa Blanca.

Nach reichlich Spaghetti, Wein und Grappa spazierten wir fröhlich schwatzend durch die frostkalte Nacht nach Hause. Über die belebte Reeperbahn und die ruhigere Hein-Hoyer- Straße, dann von der Simon-von-Utrecht Straße abbiegend, in die leere Rendsburger Straße. Dort war unsere gemeinsame Wohnung im obersten Geschoss eines schönen Altbaus.

Baader war verschrien als Selbstdarsteller

Seit einigen Straßenecken war uns eine Frau gefolgt. Ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster. Ihren Mantelkragen hatte sie bis an die Ohren hochgeschlagen und hielt ihn mit einer Hand am Hals geschlossen. Beim Aufschließen unserer Haustür sprach sie uns an. Es war Gudrun Ensslin.

Ich war sehr überrascht. Sie trug ihre dunkelblonden Haare offen und war überhaupt nicht getarnt. Jeder hätte sie sofort erkennen können, sie sah aus wie auf den Fahndungsfotos. Sie war gut gekleidet, elegant. Kamelhaarmantel, kaffeebraune Fingerhandschuhe aus Nappaleder, passendes Handtäschchen, seidenes Hermès-Halstuch, Nylonstrümpfe, hochhackige Schuhe.

Mein Freund war drei Jahre vorher aus München nach Hamburg gekommen. Ich hatte ihn in der Schwabinger Film- und Künstlerbohème in der "Zur-Sache-Schätzchen"-Zeit als aufstrebenden Jungregisseur kennengelernt. Eigentlich hieß er Joachim. In München war er nur als "Alan" bekannt, bairisch mit breitem "a" ausgesprochen! - nach seiner Vorliebe für Western und für deren Filmhelden, und ganz besonders für "Alan" Ladd.

Nach Hamburg gekommen, legte er seinen Spitznamen ab und ließ sich nur noch Jochen nennen. Jochen hatte mir viel aus seiner Münchner Zeit erzählt. Vom Fasching, von den Partys bei Witwe Schmidt in Allershausen, von den Dreharbeiten mit Rolf Thiele und Jean-Marie Straub. Und von seiner Schul- und Studienzeit. Dazu gehörte auch seine Bekanntschaft mit Andreas Baader.

Baader war in den Schwabinger Studenten- und Künstlerkreisen Anfang der sechziger Jahre als Selbstdarsteller und Exzentriker mit einem Hang zum Größenwahn verschrien. In der Schulzeit prahlte er mit einem Wehrmachtsrevolver.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Gudrun Ensslin den Freund der Autorin besuchen wollte

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Nach missglückten Theaterversuchen als Schauspieler wollte er sich das Leben nehmen. Als das misslang, machte er sich damit wichtig, dass er nur noch kurz zu leben habe, er leide an Tuberkulose - was natürlich nicht stimmte. Mittlerweile wurde, einige Brandanschläge und Banküberfälle später, nach ihm als dem Chef der Baader-Meinhof-Bande gefahndet.

Andreas Baader und Gudrun Ensslin vor der Urteilsverkündung im Brandstifter-Prozess in Frankfurt am 31. Oktober 1968. Baader war in Studentenkreisen als Exzentriker verschrien. (Foto: Foto: AP)

Das alles schoss mir beim Anblick von Gudrun Ensslin durch den Kopf.

Sie sah auf die Namensschilder neben den Klingelknöpfen und wandte sich zu uns: "Können Sie mich mit hereinlassen? Ich möchte jemanden hier besuchen." Sie sagte nicht, wen, aber mein Freund ließ sie hinein. Hatte er sie nicht erkannt? In meinem Kopf rasten die Gedanken, und das Herz klopfte bis zum Hals. Wir stiegen schweigend hinauf zu unserer Wohnung im fünften Stock.

Die alten Treppenstufen knarrten und mit einem Klick ging die automatische Treppenhausbeleuchtung aus. Unter uns ging Gudrun Ensslin, immer ein Stockwerk tiefer, auf jedem Treppenabsatz schaute sie auf die Türschilder. Wir schlossen unsere Wohnungstür auf und hinter uns wieder zu, machten Licht, hängten die Mäntel auf.

"Du, ich glaube, die Frau ist Gudrun Ensslin", sagte ich zu Jochen. "Ach was, du spinnst ja", antwortete er. Es klopfte. Mein Freund öffnete. Unsere Verfolgerin aus dem Treppenhaus fragte leise: "Bist du der Alan aus München?" Jochen nickte. "Kann ich hereinkommen? Ich habe eine Nachricht für dich, von einem alten Freund." Er ließ sie eintreten.

Ich fragte die Frau, ob sie ihren Mantel ablegen wolle. Nein, danke, das wolle sie nicht, sie wolle nur kurz bleiben. Mein Freund führte sie in unser Wohnzimmer, das zur Rendsburger Straße hinausging. "Ich mache einen Tee", sagte ich, und ging durch den langen Flur zur Küche am anderen Ende unserer Altbauwohnung.

"Sie ist es"

Vor zwei Jahren war es schwierig gewesen, die Wohnung zu bekommen, schließlich hatte keiner von uns ein festes Einkommen. Außerdem waren wir nicht verheiratet. Der Hausbesitzer in diesem bürgerlichen Teil von St. Pauli ließ uns nur einziehen, nachdem ein Redakteur vom NDR für uns gebürgt hatte.

Danach hatten wir die Wohnung total renoviert, die Wände von den Tapeten aus dem Jahr 1910 befreit, Elektroleitungen unter Putz gelegt, alles weiß gestrichen. Wenige Möbel, keine Vorhänge. Die helle, geräumige Küche liebte ich besonders. Sie hatte einen Balkon nach Süden mit einem Blick über die Dächer von St. Pauli. Im Sommer war alles grün und voller Kräuter und Blumen in den Balkonkästen.

In der Küche gab es Platz für einen runden Tisch mit breiten grünen und blauen Streifen, zwei spanische Strohstühle und die gedrechselten Finkenwerder Hochzeitsstühle mit den eingeschnitzten Namen der Familie Bargeehr. Bei ruhigem Wetter konnte man den Stundenschlag und das Glockenspiel der Kirche St. Josef in der Großen Freiheit hören. Eine friedliche Idylle.

Kaum hatte ich die Gasflamme entzündet und den Wasserkessel auf den Herd gesetzt, öffnete mein Freund die Küchentür und murmelte mir zu: "Du hast recht, sie ist es." Gudrun Ensslin folgte ihm auf dem Fuße in die Küche. Im Wohnzimmer hatte sie nicht bleiben wollen, sie fühlte sich beobachtet. Hier in der Küche wäre es besser, weil dies der einzige Raum war, den man von außen nicht einsehen konnte.

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In der Nacht auf den 18.10.1977 begehen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim die drei RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jean-Carl Raspe Selbstmord. Auf die Todesnacht von Stammheim folgt die Ermordung von Hanns Martin Schleyer. Der Deutsche Herbst ist auf seinem Höhepunkt angelangt. Eine Chronik in Bildern.

Niemand dürfe von ihrem Besuch wissen, sagte Gudrun Ensslin. Sie war angespannt, ging zum Türfenster unseres Küchenbalkons und blickte über die jetzt dunklen Dächer von St. Pauli. Ich goss den Tee auf, holte Löffel aus der Schublade, stellte die Teetassen und die Teekanne mit dem Friesenmuster und die rote Blechdose mit dem Kandis auf den Tisch.

Wir setzten uns, Gudrun Ensslin in den Finkenwerder Großvaterstuhl. Ihre Handtasche stellte sie vor sich auf den Tisch, schob sie quer zu den blauen und grünen Streifen. "Möchtest du Milch oder Zitrone?" Nein, sie wollte den Tee nur schwarz.

Andreas Baader hatte sie geschickt, mit einer Botschaft für "Alan". In den nächsten Monaten sollten in ganz BRD-Deutschland Bomben hochgehen. Das imperialistische System des Leistungsdrucks und der Gehirnwäsche durch die Medien sollte entlarvt werden.

Weil mein Freund als Regisseur für den NDR arbeitete, sollte er laut Anweisung von Baader die genauen Standorte, den Aufbau und die Wartung der Fernseh-Sendeanlagen und Sendemasten auskundschaften. Dann sollten möglichst viele Anlagen in die Luft gesprengt werden, um das System der bürgerlichen Massenkommunikation empfindlich zu stören.

Gudrun Ensslin sprach leise und sachlich, fast befehlend, kein persönliches Wort. Dabei hatte ihre eher dunkel getönte Stimme einen weichen Klang. Sie bewegte ihre Hände leise im Takt ihrer Worte. Ihre Finger waren gepflegt und manikürt.

Ich bot ihr eine von meinen Roth-Händle an. Nein, die möge sie nicht. Sie holte ihre eigenen Zigaretten aus ihrer Handtasche. Ich glaube, es waren Mentholzigaretten. Sie ließ die Handtasche offen auf dem Tisch stehen. Man konnte den kleinen Revolver darin sehen.

Jochen war merklich von der Idee gekitzelt, den "Untergrund" zu unterstützen. Ein unverhofftes Showdown wie in einem Alan-Ladd-Western? Wir hatten uns öfter über Baader-Meinhof gestritten. Ich bin Pazifistin und verabscheue Gewalt. Ich wusste, auch bei seinen NDR-Kollegen gab es manche "klammheimliche" Sympathisanten für Baader-Meinhof. Andererseits hatte Jochen keine hohe Meinung von Andreas Baader als Person.

Von St. Josef schlug es halb. Gudrun Ensslin sagte "Ich muss jetzt gehen." Den Tee hatte sie gar nicht angerührt.

Jochen gab ihr an Andreas Baader die Antwort mit, er wolle zwei Wochen Bedenkzeit.

Gudrun Ensslin stand bereits nach einer Woche wieder vor der Tür, wieder spät nachts. Dieses Mal mit der zusätzlichen Frage nach Unterschlupf. Nein, das wollte ich nicht. Jochen war nicht da. Ich gab ihr die Nachricht mit, dass "Alan" für Andreas Baader nichts tun könnte.

Dann folgten zwei Monate Kanarische Inseln, mein Magistertitel. Und: Bewerbungsgespräche. Irgendwie hatte ich die winterliche Begegnung verdrängt, fast vergessen, als ich am 7. Juni 1972 in den Nachrichten hörte, dass Gudrun Ensslin in einer Boutique am Hamburger Jung-fernstieg verhaftet worden war.

Am nächsten Tag war ein Foto von ihr in der Zeitung abgedruckt; es zeigte sie mit einer dunklen Perücke. In der Bildunterschrift hieß es: "Bei ihrer Festnahme hat Gudrun Ensslin mehrere Schüsse aus einem kleinen Revolver abgefeuert."

Sibylle Nabel-Foster lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Hamburg.

© SZ vom 17.05.2008/hai - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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