Bakterien:Tückische Phantome

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Mikroskopisch klein, aber dennoch tödlich: Methicillin-resistente Bakterien vom Typ Staphylococcus aureus (MRSA), die oft in Krankenhäusern lauern. (Foto: imago)

Der wahllose, übertriebene Antibiotika-Einsatz in der Humanmedizin, aber auch in der Massentierhaltung, hat resistente Keime entstehen lassen - ein tödliches Problem für Patienten.

Von Thomas Hahn

Es ist wie ein langsames Erwachen, so kommt es dem Anwalt Attila Yurttas vor. Allmählich verstehen die Menschen, dass es in ihrer Welt eine geheimnisvolle Gefahr gibt, die ihr Leben bedroht, und er bedauert es sehr, dass dieses Bewusstsein für viele von ihnen zu spät kommt. Attila Yurttas hat sich auf Medizinrecht spezialisiert. Seit Jahren befasst er sich mit dem Thema multiresistente Keime - mit Infektionserregern also, gegen die fast kein Medikament mehr hilft. Und er stellt fest, dass er in seiner Kanzlei in Holzminden, Niedersachsen, immer mehr Leute empfängt, die Opfer dieser Gefahr geworden sind, die einen Verwandten nach einer Routine-Operation verloren haben oder die selbst Schäden davongetragen haben nach einem Eingriff im Krankenhaus.

Attila Yurttas sieht die Trauer und die Wut dieser Leute, er versteht, dass sie jemanden zur Rechenschaft ziehen wollen für ihre Tragödie. Aber Keime kann man nicht verklagen. Und ob das Krankenhaus schuld daran ist, wenn sie bei Operationen fatalerweise in den Organismus eines Patienten gelangen, ist kaum zu beweisen. "Multiresistente Keime sind Phantome", sagt Attila Yurttas. Phantome sieht man nicht, jeder kann sie am Körper tragen. Yurttas rät seinen Mandanten meistens von einer Klage ab, weil Kosten und Erfolgsaussichten in einem schlechten Verhältnis stehen. Das Problem, dessen Opfer sie geworden sind, ist zu tückisch.

Die Zivilisation schafft sich ihre eigenen Krankheiten. Der Fortschritt ist ein Segen mit Nebenwirkungen, und zu diesen gehört das Aufkommen von Krankheitserregern, die unempfindlich geworden sind gegen die Heilkräfte der Antibiotika. Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, die an deutschen Krankenhäusern in den vergangenen Jahren viele Tote gefordert hat. Wie viele genau, dazu gibt es nur Schätzungen. Das Robert-Koch-Institut verweist auf Zahlen des Europäischen Zentrums für Gesundheitskontrolle und Prävention und der Europäischen Arzneimittelbehörde von 2009, wonach es in Europa 25 000 Todesfälle infolge antibiotikaresistenter Erreger gegeben habe.

Deutschland hinkt im Kampf gegen die Keime im Vergleich zu den Nachbarn hinterher

Aber klar ist, dass das Problem ernst ist und nicht nur die Medizin fordert. "Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", sagt Professor Alex Friedrich, Chef der Abteilung Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene an der Universität Groningen, ein prägender Netzwerker im europäischen Kampf gegen multiresistente Keime. Deutschlands Bemühungen findet er bei dieser Aufgabe noch ausbaufähig. Gerade wenn er sie mit denen in seiner Wahlheimat Niederlande vergleicht.

Das Problem multiresistenter Keime ist komplex. Es hat mit einer modernen Konsum-Medizin zu tun, die derart willkürlich mit Antibiotika um sich wirft, dass sie sozusagen die Saat für multiresistente Erreger (MRE) wie den Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA) auswirft. "Wir werden zugebombt mit Antibiotika", sagt Anwalt Yurttas, "der Umgang ist leichtsinnig geworden."

Das Problem hat aber auch damit zu tun, dass mehr Bedarf an medizinischer Behandlung besteht. Mikrobiologe Friedrich verweist auf den demografischen Wandel: Die Gesellschaft altert, die Zahl der Leute, die Behandlung brauchen, wächst, mehr Medikamente kommen in Umlauf. Gleichzeitig werden die medizinischen Eingriffe komplexer, sie bringen neue Infektionsrisiken mit sich und neue antibiotikaresistente Keime, die durch jede Hygiene-Lücke schlüpfen. "Im Krankenhaus fotokopieren wir geradezu diese antibiotikaresistenten Erreger von Patient zu Patient", sagt Friedrich. "Einerseits entstehen immer mehr Infektionen, andererseits lassen sich immer weniger Infektionen adäquat behandeln, weil wir es zulassen, dass Resistenzen sich ausbreiten." Er hält das Problem für unterschätzt. "Viele erkennen noch nicht, dass wir die liebgewonnene Behandlung mithilfe von Antibiotika für bestimmte Infektionen nicht mehr haben." Hinzu kommt: In der Massentierhaltung sind Antibiotika mittlerweile praktisch Teil der Nahrung der Masttiere und bringen damit eine weitere Generation von Antibiotika-Resistenzen hervor. Die Bauern mischen die Medikamente ins Futter und ins Wasser in der Hoffnung, Infektionen vorzubeugen, die in ihren Industrieställen programmiert sind. "Diese Vorstellung von Prävention mag für die akute Behandlung der Tiere erst mal funktionieren, hat aber einen negativen Nebeneffekt", sagt Friedrich: "Im Darm der Tiere setzen sich resistente Dauererreger, die nichts mit der Erkrankung der Tiere zu tun haben, die in die Umgebung gelangen und mit denen der Mensch in Kontakt kommt."

Die Behörden sind alarmiert, Niedersachsen zum Beispiel hat sich zur Auflage gemacht, den Antibiotika-Einsatz in der Tiermast binnen fünf Jahren um 50 Prozent zu senken. Das Bundesland weist die höchste Tierhaltungsdichte in Europa auf. "Dementsprechend gehen rund 40 Prozent aller Antibiotika im Mastbereich in diese Region", teilt das Agrarministerium in Hannover mit und liefert irritierende Daten aus einer eigenen Studie: Demnach erfährt eine deutsche Mastpute in den drei Monaten ihres Lebens im Durchschnitt 9,8 Behandlungen mit Antibiotika.

Niedersachsens grüner Agrarminister Christian Meyer ist besorgt. Er hat festgestellt, dass in der Tierhaltung immer mehr Antibiotika aus Wirkstoffgruppen zum Einsatz kommen, die in der Humanmedizin als Reserve-Antibiotika nötig sind, wenn übliche Antibiotika nicht mehr wirken. Das kann für Menschen gefährlich werden, weshalb Meyer sagt: "Ich bin dafür, zu prüfen, ob diese Wirkstoffe für die Humanmedizin reserviert werden sollten."

Resistente Erreger aus der Tierhaltung haben in Krankenhäusern noch wenig Schaden angerichtet. Sie sind unempfindlich gegen Antibiotika aus der Tierhaltung, aber noch nicht gegen Antibiotika aus der Humanmedizin. "Wenn man allerdings wartet, bis zum Beispiel MRSA aus der Tierhaltung sich so lange unter Menschen ausbreiten, dass die auch noch resistent gegen Krankenhaus-Antibiotika werden, dann hat man ein Problem", sagt Friedrich.

Das Thema drängt. Seit Jahren schon, aber jeder neue Todesfall, der mit antibiotikaresistenten Keimen zu tun haben könnte, verunsichert die Bürger mehr. Anwalt Yurttas hat an den verschiedenen Orten, an denen er bisher tätig war, eine teilweise irrationale Angst in der Bevölkerung festgestellt. Viele Leute tragen Patientenverfügungen im Geldbeutel, weil sie im Notfall nicht ins örtliche Krankenhaus wollen - nicht nur wegen MRSA. Mit ausgefeilten Hygieneplänen, freiwilliger Teilnahme an Meldeprogrammen, Informationsveranstaltungen und strenger Aufarbeitung von Resistenz-Fällen versuchen die Krankenhäuser Vertrauen zu wecken. Das Robert-Koch-Institut bietet umfassende Hygiene-Empfehlungen. Und doch findet Alex Friedrich, dass Deutschland Nachholbedarf hat im Vergleich zu Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden. "Ein Niederländer muss weniger Angst haben als ein Deutscher. Warum?" Es liegt an einer anderen Präventions-Kultur im Nachbarland.

"In den Niederlanden wird die Ausbreitung von Antibiotika-Resistenz als etwas Unakzeptables für die Gesellschaft gefühlt", sagt Friedrich, "der Kampf dagegen wird hier um fast jeden Preis betrieben." Die frühe Vorbeuge ist in den Niederlanden der Schlüssel zu mehr Patienten-Sicherheit. Hauptamtliche Krankenhaushygieniker und Mikrobiologen gehören dort zur Grundausstattung jedes einzelnen Krankenhauses. Sie haben ihre Patienten rund um die Uhr im Blick. Mit größtmöglichem Aufwand fahnden sie nach Erregern, die eine Gefahr bedeuten könnten. "Sie haben das Auge für das Unsichtbare", sagt Friedrich, und wenn sie feststellen, dass gefährliche Keime den Körper eines Patienten besiedeln, wird der behandelt, als sei er schon infiziert. Keime, wie sie deutsche Kliniken in den vergangenen Jahren in Krisen stürzten, haben die Niederländer so schon erfolgreich bekämpft, noch bevor überhaupt jemand krank werden konnte. "In Deutschland ist der klinische Mikrobiologe durchschnittlich 140 Kilometer vom Patienten weg, in den Niederlanden ungefähr 600 Meter", sagt Friedrich. Die Klinik der Zukunft braucht Sonderfahnder, welche die Gefahr im Nichts erkennen und abwehren. Dann kann das Phantom seinen Schrecken verlieren.

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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