Außenansicht:Europa in Gefahr

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Das Scheitern der EU ist nicht mehr auszuschließen. Jetzt sind klare Ansagen gefordert.

Von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

Die Vorwarnzeit war lang, jetzt wird es ernst: Inzwischen ist es nicht mehr auszuschließen, dass das historische Integrationsprojekt EU scheitert. Oder dass es zumindest so weit wert- und sinnentleert wird, dass von der europäischen Idee einer "immer engeren Union der Völker Europas" (so heißt es im EU-Vertrag) nicht mehr viel übrig bleibt. Viel steht auf dem Spiel: Europas innerer und äußerer Frieden, sein gemeinsamer Wohlstand, seine Zukunfts- und Überlebensfähigkeit.

Die inneren Verwerfungen sind gewaltig. Sie reichen von Wachstumsschwäche, hoher Arbeitslosigkeit und labilen Staatsfinanzen bis hin zur Gefahr der Desintegration durch den Austritt Großbritanniens aus der EU. Hinzu kommen in Ungarn und Polen offene Angriffe auf die Rechtstaatlichkeit, den zentralen Angelpunkt unserer Wertegemeinschaft. Angesichts der Flüchtlingskrise zerfällt Europas Zusammenhalt rapide, etliche Mitgliedstaaten lassen wieder die Schlagbäume herunter.

Auch von außen droht Gefahr, der Konflikt mit Russland wegen der Annexion der Krim und der Separatisten in der Ostukraine zeigt dies ebenso wie der immer näher rückende islamistische Terror. Auf all diese inneren und äußeren Konfliktlinien vermag die EU bisher nur ungenügend zu antworten. Brandgefährlich ist weiterhin, dass immer mehr Bürger der EU das Vertrauen entziehen; sie glauben nicht mehr daran, dass sich Europas Einigung auch für sie lohnt: in Gestalt von Sicherheit, Wohlstand und generell einem besseren Leben. Vielmehr sehen sich viele als Verlierer. Zwischen 2004 und 2014 ist das Vertrauen der Europäer in die EU rapide gesunken. Immer mehr Wähler wenden sich extremen, vor allem rechtsextremen Parteien zu, die Abschottung, Renationalisierung und Fremdenfeindlichkeit als Rezept gegen die Krise propagieren. Die jüngsten französischen Regionalwahlen brachten dem rechtsextremen Front National 27 Prozent der Stimmen. In Polen siegte die sehr weit rechts angesiedelte Pis, mit unmittelbaren Folgen für die polnische Demokratie. Aber auch in den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten laufen rechtspopulistischen Parteien zunehmend Wähler zu. Kombiniert mit sinkender Wahlbeteiligung und verbreiteter Politikverdrossenheit führt all dies zur Abwendung der EU-Bürger vom europäischen Einigungsprojekt. Damit aber erodiert jener permissive Konsensus, der quasi die Muttererde der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Europäischen Gemeinschaft und schließlich der EU war. Auch Europas Bürger könnten die EU scheitern lassen - aus Mangel an Vertrauen und an Loyalität.

Was tun? Und: Wer muss was tun?

Auch die sozialen Medien könnten helfen, ein neues Narrativ für den Staatenbund zu verbreiten

Die extremen Gefahren, die die EU bedrohen, verlangen nach starken Antworten. Diese müssen sowohl von den Brüsseler als auch den einzelstaatlichen Akteuren geliefert werden. Dabei versteht sich von selbst, dass zunächst die vielen noch halb fertigen oder vernachlässigten Vorhaben energisch angepackt werden müssen: Vollendung eines sozial- und klimapolitisch nachhaltigen Wirtschaftsmodells, solidarische Konsolidierung der Euro-Zone, Schaffung eines echten europäischen Flüchtlings- und Asylsystems, wirksamer Schutz der EU-Außengrenzen, Stärkung der EU-Außenpolitik, Ausbau der Demokratie im politischen System der EU.

Aber all das wird nicht reichen. Zusätzlich muss ein Ruck durch die gesamte EU gehen, damit sich alle wieder auf Sinn und Ziel des Integrationsprojekts besinnen. EU-Kommission und Europäisches Parlament müssen bei der Verteidigung der Grundwerte der EU einen entschiedeneren, härteren Kurs einschlagen: So ist es richtig, dass die EU die Rechtsstaatlichkeit von Ungarn und Polen prüft, um diese Länder in ihre Grenzen zu weisen. London muss klargemacht werden, dass auch die EU rote Linien definieren kann.

Paris wiederum muss verinnerlichen, dass Maastricht-Kriterien und Fiskalpakt keine exception française kennen, und Berlin, dass niemand ein deutsches Europa möchte. Auch muss die Kommission als Hüterin der Verträge auf die Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse bestehen, wie im Falle des Mehrheitsbeschlusses zur quotierten Umverteilung von Flüchtlingen. Wenn die Slowakei vor dem EuGH dagegen klagen will, dann soll sie dies tun - bis zu einem Urteil aber ihre Pflichten erfüllen. Insgesamt müssen die EU-Institutionen selbstbewusster und entschlossener auf die Einhaltung der gemeinsam gesetzten Regeln bestehen und, wenn nötig, auch mal die Zähne zeigen. Klare Ansagen sind vor allem im Umgang mit nationalen Populisten bitter nötig.

Wesentlich mehr noch als Brüssel selbst müssen die 28 Mitgliedstaaten tun, um die EU wieder zu stärken und bei den Bürgern wieder Akzeptanz und Vertrauen für Europa zu schaffen. So müssen Osteuropäer und Balten endlich verinnerlichen, wem sie 2004 beigetreten sind: keiner verkappten UdSSR, sondern der antihierarchischen EU, die von allen mitgestaltet wird. Auch die Südeuropäer müssen sich mehr einbringen. Angesichts der Geschichte und Struktur der EU aber sind Frankreich und Deutschland als unersetzlicher Motor der Integration ganz besonders gefordert. Sie müssen ihre tradierte Rolle überwinden: Auch jenseits ihrer nützlichen, letzthin aber kaum mehr ausgefüllten Funktion als Ideengeber und Vorreiter der EU müssen Berlin und Paris Neues wagen. Zwei große Initiativen bieten sich an. So müssen Deutschland und Frankreich bei der Schaffung neuer Führungsstrukturen vorangehen. Es muss Schluss sein mit dem Konkurrenzkampf zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten, der meist zu Lasten der EU ausgeht. Vielmehr gilt es, neue Formen der Kooperation und Arbeitsteilung zu finden, die die unterschiedlichen Potenziale optimal verknüpfen und nutzen und so Synergien generieren. Häufige gemeinsame Auftritte von deutschen, französischen (und anderen nationalen) sowie EU-Akteuren könnten ein erster Schritt sein.

Zweitens müssen Deutsche und Franzosen eine groß angelegte Debatte zum Thema "Warum und wozu Europa?" entfachen. Den EU-Bürgern ist das Friedens- und Wohlstandsprojekt Europa aus zeitgeschichtlicher Perspektive erneut zu erklären; dies ist Voraussetzung für die Entwicklung eines neuen, zukunftsgewandten, identitätsstiftenden Narrativs, das europäische Antworten auf die heutigen Herausforderungen formuliert. Neue Medien und soziale Netzwerke könnten dabei ihre kreativ-positiven Potenziale europaweit beweisen, indem sie auch das Thema Kerneuropa als ein Europa der Willigen diskutieren, um nur ein naheliegendes Beispiel zu nennen.

Es ist höchste Zeit, dass tatsächlich ein Ruck durch Europa geht.

© SZ vom 14.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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