Das letzte Jahr war hart für Griechenland - und es sieht nicht danach aus, dass sich die Lage in diesem Jahr bessert. Millionen Menschen sind unmittelbar von den umfangreichen Sparmaßnahmen betroffen, mit denen die Regierung gegen die Wirtschaftskrise kämpft. Politische Spannungen erschüttern das Land; besonders beunruhigend ist der Erfolg der rechtsradikalen Partei Goldene Morgenröte. Dazu kommen massive gesellschaftliche Probleme, die teilweise mit den zahllosen Migranten zusammenhängen, die in den vergangenen Jahren aus Ländern außerhalb der Europäischen Union nach Griechenland gekommen sind.
Bei all diesen Schwierigkeiten wird eine andere Krise leicht übersehen. Die fremdenfeindliche Gewalt gegen Migranten und Asylsuchende in Athen und anderswo droht, außer Kontrolle zu geraten. Massenausschreitungen gegen Menschen aus Afghanistan und Afrika sind an der Tagesordnung, die meisten werden nicht einmal offiziell registriert.
Dagegen muss Griechenland in diesem Jahr unbedingt etwas tun, gemeinsam mit Deutschland und den anderen EU-Mitgliedstaaten. Die Übergriffe selbst sind massive Menschenrechtsverletzungen. Allerdings wiegt noch schwerer, dass die Verantwortlichen normalerweise nicht bestraft werden. Weder die Polizei noch andere staatliche Organe bemühen sich ernsthaft darum, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Straflosigkeit zerstört die Illusion, dass in dem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Europa Toleranz und Frieden regieren.
Human Rights Watch hat zwischen November 2011 und dem ersten Halbjahr 2012 Dutzende rassistische Übergriffe dokumentiert. Die Welle der Gewalt reißt nicht ab. Im November 2012 forderte der Ägypter Waleed Taleb, der ohne Papiere in Griechenland lebt und in einer Bäckerei arbeitet, von seinem Arbeitgeber den unbezahlten Lohn. Daraufhin banden ihm sein Chef und dessen Freunde eine Kette um den Hals, zerrten ihn wie einen Hund durch die Gegend und verprügelten ihn, wie er Journalisten berichtete.
Nachdem er sich in ein Krankenhaus gerettet hatte, haben ihn Polizisten wegen seiner fehlenden Ausweispapiere festgenommen. "Ich dachte, ich würde sterben", sagt er. "Das Problem war doch nicht, dass ich keine Papiere hatte, sondern, dass ich zusammengeschlagen wurde." Gegen die Täter wurde wegen geringfügiger Vergehen ermittelt, bislang sind sie nicht verurteilt worden.
Viele Menschen in Griechenland, auch einige in führenden Positionen, würden diesen Aspekt der Krise gerne ignorieren. Ihrer Ansicht nach hat das Land ohnehin schon zu viele Probleme. Sie glauben, die rassistische Gewalt würde von alleine abebben, wenn das defekte Asylsystem endlich reformiert ist und die Wirtschaft wieder wächst. Diese Ausflüchte mögen nachvollziehbar sein. Aber sie verschleiern, dass die Intoleranz zunimmt. Immer stärker richtet sie sich auch gegen andere verletzliche Gruppen, zum Beispiel gegen Homosexuelle.
Ebenso beunruhigend ist, dass einige Politiker anscheinend deshalb untätig bleiben, weil sie eine populistische Reaktion von der Partei Goldene Morgenröte fürchten. So bezieht kaum jemand Position gegen die massive Fremdenfeindlichkeit. Als wir dem griechischen Parlament im November 2012 unsere Untersuchungsergebnisse zu xenophober Gewalt vorstellten, bezeichnete ein Mitglied der Regierungspartei Ausländer, die nach Griechenland kommen, als "Kakerlaken".
Die griechische Regierung hat kleine Schritte unternommen, um das Problem anzugehen. So hat sie im Dezember beschlossen, spezialisierte Polizeieinheiten einzurichten, die in Athen und Thessaloniki rassistische Gewalttaten verfolgen. Das ist zwar eine positive Entwicklung, aber die Initiative ist zu begrenzt und unbestimmt. Dem Vorschlag fehlen wichtige Details darüber, wie die neuen Einheiten arbeiten sollen, wie Betroffene ohne Papiere vor Verhaftungen geschützt werden können und wie die Polizisten ausgebildet werden sollen. Und erst dann, wenn die Spezialeinheiten tatsächlich arbeiten, ist bewiesen, dass die griechische Regierung ihren Vorstoß ernst meint - vor allem, weil in der Vergangenheit zahlreiche neue Gesetze nicht in der Praxis angekommen sind.
Das Verhältnis der EU zu Griechenland ist bestimmt durch die Krise der Euro-Zone und durch Versuche, mit Athen bei der Verbesserung der Asylpolitik zusammenzuarbeiten. Aber die grassierende fremdenfeindliche Gewalt darf nicht ignoriert werden. Bei Hintergrundgesprächen in Athen haben sich griechische Regierungsvertreter offen dafür gezeigt, das Problem mit finanzieller und technischer Unterstützung der Europäischen Kommission anzugehen. Nun muss die Kommission klar sagen, wo und in welchem Umfang sie aktiv werden kann.
Auch Deutschland spielt eine wichtige Rolle, unabhängig davon, dass das Verhältnis zwischen Berlin und Athen wegen der unter deutschem Druck umgesetzten Sparmaßnahmen angespannt ist. Die deutsche Regierung scheint sich darüber im Klaren zu sein, was auf dem Spiel steht. Im Dezember räumte sie in einer Antwort auf eine Anfrage im Bundestag ein, dass immer mehr Beweise für eine Zunahme fremdenfeindlicher Gewalt in Griechenland vorlägen. Sie äußerte sich "besorgt" über die Erfolge von Goldene Morgenröte und erkannte an, dass es sich bei ihr um eine faschistische oder neonazistische Partei handele. Die deutsche Regierung hat auch Kenntnis darüber, dass Asylsuchende in Griechenland nicht gut behandelt werden. Wegen "gravierender Mängel" im Asylsystem setzte sie im Dezember Abschiebungen nach Griechenland für ein weiteres Jahr aus.
Bereits jetzt unterstützt Deutschland Griechenland bei der Einwanderungskontrolle. An der Seite ihrer griechischen Kollegen verfolgen deutsche Polizisten Menschenhändler. Da soll es auch möglich sein, gemeinsam gegen fremdenfeindliche Gewalt vorzugehen. Darüber hinaus soll die deutsche Regierung das Thema auf die Agenda der EU setzen; immerhin hat sie angekündigt, sich dafür einzusetzen, dass Griechenland für sein Asylsystem mehr Geld von der Europäischen Kommission erhält. Auf lange Sicht sollte Deutschland eine Reform des Dublin-Systems unterstützen. Es überträgt den Ländern die Verantwortung für die Asylsuchenden, durch die sie in die EU einreisen, und belastet Griechenland unverhältnismäßig stark.
Es wäre ein Skandal, wenn fremdenfeindliche Gewalt in den Straßen Athens Normalität würde. Griechenland muss mehr tun, damit dies nicht passiert - und Deutschland sollte dabei helfen.
Der gelernte Journalist Hugh Williamson, 49, ist Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch.