Armenien:Der Traum vom ganz neuen Land

Lesezeit: 5 min

Im Frühjahr fegte die "samtene Revolution" eine langjährige Herrschaft hinweg, in der die Korruption besser gedieh als die Wirtschaft. Dier Wahl am Sonntag soll die Veränderung auch im Parlament verankern.

Von Frank Nienhuysen, Edschmiatsin/Eriwan

Sie zwangen das alte Regime in die Knie: Im April gingen Hunderttausend auf die Straße in Armeniens Hauptstadt Eriwan. (Foto: Sergei Grits/AP)

Sie will Veränderung, das Düstere aus der Vergangenheit loswerden. Diana Gasparjan steht in ihrem Bürgermeisterzimmer, sie schaut an die Wand und sagt, noch vor der ersten Frage, "die beiden Bilder sind mir zu dunkel, ich werde sie austauschen". Dann knöpft sie sich die Möbel vor. Dunkelbrauner Schreibtisch, altbackene Stuhlreihen, könnte schon zur Sowjetzeit hier so ausgesehen haben. "Nicht mein Geschmack, vieles ist alt", sagt sie, "das ändere ich, sobald ich dazu komme." Neue Zeiten brechen also an, im Bürgermeisterzimmer von Diana Gasparjan, aber auch in ihrer Stadt Edschmiatsin, in ihrem Land Armenien.

Gasparjan ist 30, die erste Frau, die jemals in dem Kaukasus-Staat ein Bürgermeisteramt ausübt. Sie kann nicht sagen, dass sie das gewollt hätte. Ihr erster Gedanke war, freundlich abzulehnen, als sie sich im Frühjahr von der Revolutionswelle erfassen ließ und der neue Ministerpräsident Nikol Paschinjan sie bat, das Amt vorläufig zu übernehmen. Sie kennt Paschinjan schon lange, aber sie hatte ja einen guten Job, war Juristin im Justizministerium. "Ich dachte dann, gut, ich mache das jetzt bis zur Neuwahl, aber die Bürger hier werden niemals eine Frau wählen." Gasparjan irrte sich, und erhielt die absolute Mehrheit. Seit dem Herbst ist Gasparjan ein Symbol für die Zeitenwende. Die Armenier sehnen sich nach Aufbruch, dem Ende der alten Elite, am Sonntag dürfte sich das auch bei der Parlamentswahl zeigen.

Der Volkstribun Paschinjan ist nach der "samtenen Revolution" im Frühjahr Ministerpräsident geworden, jetzt will er, dass die neuen Machtverhältnisse auch im Parlament zementiert werden. Die bislang dominierende Republikanische Partei hat längst kapituliert und als Ziel Platz zwei ausgerufen. Um den muss sie allerdings kämpfen. Viele Mitglieder haben die alte Partei der Macht illusionslos verlassen, manche haben sich geschmeidig Paschinjan angeschlossen, der bewusst auch Vertreter von Bürgerinitiativen in sein Team holte. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird seine Allianz "Mein Schritt", die vor allem aus der Partei Zivilvertrag besteht, mit überwältigender Mehrheit gewinnen. Im Land wird allenfalls gerätselt, ob es für die übrigen Parteien überhaupt zu nennenswerter Opposition reicht. So viel Rückhalts konnte sich noch kein armenischer Politiker zuvor gewiss sein. Im Frühjahr hatte Paschinjan einen Protestmarsch bis in die Hauptstadt Eriwan angeführt, dem sich mehr als 100 000 Menschen anschlossen. Sie trotzten dem frechen Versuch des einstigen Präsidenten Sersch Sargsjan, nach seinem Abtritt in das nun mächtigere Amt des Premiers zu wechseln. Die Armenier haben dies verhindert. Das Regime beugte sich dem Druck der Straße. Nun soll die Revolution vollendet werden.

"Es gab hier eine Diktatur, eine Atmosphäre der Furcht"

Diana Gasparjan hatte sich am Aufstand beteiligt. "Bis 18 Uhr war ich im Ministerium, dann ging ich auf den Platz der Republik und unterstützte Paschinjan", sagt sie. Es ging um mehr Demokratie, Transparenz, dagegen, dass wenige Mächtige Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dirigieren wie ihren Betrieb. Sie kennt die Willkür auch aus ihrer Heimatstadt.

Edschmiatsin ist eine Kleinstadt nahe Eriwan, und doch sehr viel mehr: Sie gilt als heilige Stadt, ist Zentrum der armenisch-apostolischen Kirche, Sitz des Katholikos. Was man auch sieht außer der prächtigen Kathedrale, sind Armut, renovierungsbedürftige Straßen, heruntergekommene Reihenhäuser, von deren Balkonen aufgehängte Wäsche baumelt. "Edschmiatsin hat Potenzial, aber es wurde nie genutzt", sagt die neue Bürgermeisterin. "Es gab hier eine Diktatur, eine Atmosphäre der Furcht." Fast 20 Jahre herrschte Manwel Grigorjan, ein ehemaliger General und Abgeordneter der Republikanischen Partei. Gasparjan sagt, "er war der Chef von allem, er konnte jemandem verbieten, hier zu stehen oder dort zu parken. Viele haben sich nicht getraut, ein Geschäft zu eröffnen, aus Furcht, jemand könnte Anteile einfordern". Grigorjans Sohn war Bürgermeister, Gasparjans Vorgänger. Er trat zurück, sein Vater wurde festgenommen. Und Gasparjan bastelt nun an der Zukunft.

Verbündete: Nikol Paschinjan ist seit dem Umsturz Regierungschef Armeniens. Er überzeugte Diana Gasparjan, Bürgermeisterin in Edschmiatsin zu werden. (Foto: oh)

Straßen müssen erneuert werden, alte Dächer repariert, Grünflächen angelegt werden. Wo anfangen, wo aufhören? Der EU-Vertreter in Armenien hat ihr bereits Hilfe signalisiert, dazu setzt sie auf Fundraising, auf neue Sponsoren, Mischfinanzierungen wie Crowdfunding, Gasparjan will die Bürger mit abstimmen lassen, welche Projekte Vorrang bekommen sollen. Nur: Transparent und gesetzestreu soll jetzt alles verlaufen, "das müssen alle akzeptieren", sagt die Bürgermeisterin.

Es gehört Idealismus dazu, die Stelle im Justizministerium aufzugeben und nun für 400 Dollar monatlich mühsam gegen Korruption anzuarbeiten. Gasparjan sagt ja selber, die Korruption sei auch deshalb so groß, weil Minister, Staatsanwälte, Beamte, Bürgermeister so wenig verdienen, "aber ich übernehme die Verantwortung, auch für dieses Gehalt zu arbeiten".

Schwer genug, in Edschmiatsin die Wende zu schaffen, Paschinjan will sie für ganz Armenien. Derart groß sind die Hoffnungen, dass Enttäuschungen kaum ausbleiben werden. "Es braucht vielleicht Generationen, denn die Probleme liegen im System: die Korruption, die Verflechtung von Politik und Wirtschaft", sagt Alexander Iskandarjan, Direktor des Kaukasus-Instituts in Eriwan. "Es ist ein Unterschied, gegen einzelne korrupte Personen vorzugehen oder Korruption als solche zu beenden. Bisher kann ich erst wenige konkrete Schritte erkennen, wie Paschinjan das machen will. Es ist dafür auch zu früh."

Armenien ist eines der ärmsten Länder in Europa, der Verdienst liegt bei umgerechnet 200 bis 300 Euro. Es hat keinen Zugang zum Meer, keine üppigen Bodenschätze, und die Hälfte der nachbarschaftlichen Beziehungen sind Konfliktbeziehungen: mit der Türkei, mit Aserbaidschan. Nicht die beste Aussicht für eine Zäsur im Handumdrehen. Im Süden liegt Iran, im Norden Georgien und dann Russland, mit dem Armenien ein pragmatisches Verhältnis pflegt. Dass Paschinjan mit einer Revolution das alte Regime hinweggefegt hat und von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit redete, wurde in Moskau mit Misstrauen gesehen. Doch Paschinjan konnte den Kreml beruhigen, dass es ihm nicht um die EU oder Russland gehe, sondern um Armeniens Wohl. Für das er Russland eben auch braucht.

Russland liefert Gas, und mit Waffen und Soldaten auch Sicherheit gegen die Türkei und Aserbaidschan. Und es bietet in der Eurasischen Wirtschaftsunion einen Markt für armenische Waren. Mit der EU wiederum ist Armenien durch das Partnerschaftsabkommen Cepa verbunden. Es herrscht ein Gefühl nötiger Balance, auch bei Paschinjan, der früher seine Sympathie für den Westen gezeigt hat, nun aber auch den Kontakt mit Wladimir Putin gesucht hat. "Er hat auch keine Wahl", sagt Iskandarjan, "die meisten meiner Studenten wollen zwar nach Europa, lernen Englisch. Aber Armenien will kein Kampfplatz sein zwischen Russland und der EU."

Der Bevölkerung ist dies völlig bewusst, sie will einfach, dass Willkür und Vetternwirtschaft enden, Platz machen für Aufschwung und höhere Gehälter. Sara Anjargolian glaubt daran. Noch nie so sehr wie jetzt. Bis vor sechs Jahren war sie Anwältin in Los Angeles. Sie stammt aus einer der vielen armenischen Diaspora-Familien, die wegen des Genozids vor hundert Jahren den Kaukasus verlassen haben, aus der Ferne Geld in das unabhängige Armenien schicken und den Staat entlasten. Sie sagt, "das Geld von der Diaspora haben die früheren Regierungen immer sehr gern gesehen, nicht aber die Leute selber, mit ihren Werten von Demokratie und Freiheit."

Jetzt glaubt sie nicht nur an die politische Revolution, sondern auch an die wirtschaftliche. An Armenien als IT-Land, in dem sich bereits eine Gründerszene entwickelt hat mit vielen Start-ups, die Paschinjan ausbauen will. An mehr Tourismus. Anjargolian sitzt in einem Büro inmitten der Hauptstadt, sie ist Chefin von Impact Hub Eriwan, das sich als Ideen-Zentrum versteht, mit Beratung und Netzwerken hilft. Sie schaut direkt auf den Platz der Republik, wo auf dem Regierungsgebäude die armenische Fahne weht und im April mehr als 100 000 Menschen demonstrierten. Sie sagt, "endlich werden die Monopole der Oligarchen aufgebrochen. Die Menschen werden jetzt ernst genommen, der Premier fährt nicht mehr hinter schwarzen Autofenstern an ihnen vorbei." Neulich hörte sie ihren Zahnarzt telefonieren, er wies einen Bestechungsversuch ab. "Jetzt gibt es eine andere Furcht, nämlich die, etwas anzunehmen", sagt Anjargolian, "langsam ändert sich was."

© SZ vom 08.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: