Arbeitskampf:Eine Million ausgefallene Arbeitstage 

Lesezeit: 3 min

Gewerkschaftsforscher legen die Streikstatistik für das Jahr 2018 vor. Der Anstieg zum Vorjahr ist deutlich.

Von Henrike Roßbach, Berlin

Ein Jahr hat, meistens jedenfalls, 365 Tage. Streiktage allerdings lassen sich darin deutlich mehr unterbringen, weil jeder Tag Arbeitskampf je Mitarbeiter extra zählt. Wenn zwei Beschäftigte einen Tag lang streiken, sind das in der Statistik schon zwei Ausfalltage. 2018 sind auf diese Weise hierzulande 1,03 Millionen Arbeitstage ausgefallen, weil Mitarbeiter in Streiks oder Warnstreiks ihre Arbeit niedergelegt haben. Das hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung auf Grundlage von Gewerkschaftsangaben, Pressemeldungen und eigenen Recherchen ausgerechnet.

Verglichen mit dem Vorjahr war das ein deutlicher Anstieg; 2017 war es noch zu lediglich 238 000 Ausfalltagen gekommen. Auch die Zahl der streikenden Arbeitnehmer ist kräftig gestiegen: Während 2017 nur 131 000 Arbeitnehmer an Arbeitskämpfen teilnahmen, waren es vergangenes Jahr 1,15 Millionen - wobei Arbeitnehmer mehrfach gezählt werden können, sofern sie an mehreren Streiks teilnehmen.

Wenn große Tarifrunden stattfinden, steigt auch die Zahl der Arbeitsniederlegungen

Der Grund für das gestiegene Maß an Streikaktivitäten allerdings ist nicht, dass in der eigentlich eher konsensorientierten deutschen Tariflandschaft plötzlich die große Streik- und Streitlust ausgebrochen wäre. Vielmehr ist es so, dass die Streiktage und die Zahl der Arbeitnehmer im Ausstand immer dann in die Höhe schnellen, wenn große Tarifrunden anstehen. Die gehen selten zumindest ohne Warnstreik über die Bühne, weil Gewerkschaften schon alleine zur Mitgliedergewinnung regelmäßig demonstrieren müssen, wozu sie im Zweifel fähig sind.

2018 waren es die Metaller, die die Statistik nach oben trieben. "Ausschlaggebend für die deutlichen Anstiege bei Streikbeteiligung und Ausfalltagen waren die umfangreichen Streikaktionen während der Metall-Tarifrunde", sagt Heiner Dribbusch, Tarifexperte des WSI. 60 Prozent aller Ausfalltage seien auf diese Tarifauseinandersetzung entfallen. Kein Wunder, in der Metall- und Elektroindustrie geht es in Tarifrunden um knapp vier Millionen Beschäftigte. Außerdem stand 2018 auch eine Tarifrunde für die 2,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen an, die von zahlreichen Warnstreiks begleitet war.

Aufsehen aber erregen nicht nur Arbeitskämpfe in großen Branchen, mit vielen Beschäftigten und entsprechend vielen Ausfalltagen. Sondern gerade auch jene Streiks und Warnstreiks, bei denen eine eher kleine Anzahl Beschäftigter das halbe Land stilllegen kann. Die prominentesten Beispiele waren im vergangenen Jahr der Streik der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) oder auch der Streik der Mitarbeiter von Ryanair, zu denen Verdi und die Vereinigung Cockpit aufriefen.

Und dann gibt es noch die besonders langen, zähen Tarifauseinandersetzungen, die aber in der Öffentlichkeit nur begrenzt wahrgenommen werden. Zu dieser Kategorie gehört beispielsweise der Arbeitskampf der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beim Versandhändler Amazon, der immer wieder von Warnstreiks begleitet ist. Nach Angaben des WSI ist dieser Tarifkonflikt 2019 ins sechste Jahr gegangen - bislang ohne greifbares Ergebnis. Auch lokale Streiks werden bundesweit oft nicht wahrgenommen, selbst wenn sie viele Wochen dauern. Ein Beispiel aus der WSI-Statistik: der Streik der wissenschaftlichen Hilfskräfte an den Hochschulen in Berlin, mit eineinhalb Jahren Verhandlungen und 40 Streiktagen.

Insgesamt gab es nach WSI-Angaben im vergangenen Jahr 216 Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die von Streiks begleitet wurden. Gestritten wurde nicht nur ums Geld, sondern auch darum, überhaupt nach Tarif bezahlt zu werden - oder auch, als Arbeitnehmer die eigene Arbeitszeit stärker selbst mitbestimmen zu dürfen. Trotz der großen Tarifrunden und der deshalb vielen Ausfalltage im vergangenen Jahr bleibt Deutschland aber ein ziemlich zahmes Land, wenn es um Arbeitskämpfe geht. International vergleichbare Zahlen gibt es bis 2017. Und die Statistik zeigt, dass hierzulande zwischen 2008 und 2017 im Schnitt 16 Arbeitstage je 1000 Beschäftigte ausfielen. Damit liege Deutschland im unteren Mittelfeld, sagt das WSI.

In Dänemark dagegen fielen je 1000 Beschäftigte 116 Arbeitstage aus, in Frankreich 118. Deutlich weniger als in Deutschland wird in Polen, Schweden, Österreich und der Schweiz gestreikt. Allerdings ist die Vergleichbarkeit laut Dribbusch insgesamt eingeschränkt. In Frankreich beziehen sich die Zahlen nur auf Privatwirtschaft und Staatsunternehmen, nicht aber auf den öffentlichen Dienst. In Spanien tauchen große Generalstreiks nicht in der Statistik auf; in den Vereinigten Staaten wird erst bei 1000 Streikenden überhaupt mit dem Zählen angefangen. Italien und Griechenland wiederum führen nach Angaben des WSI "seit Längerem keine Streikstatistik mehr".

© SZ vom 29.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: