Arabischer Aufstand und Scharia:Scharia als islamischer Leitfaden - geht das?

Lesezeit: 4 min

Ob das geht, ist eine ganz andere Frage. Sogar Islamisten gestehen zu, dass sich göttliches Recht auf verschiedene Weise erfüllen lässt. Strikt nach dem Wortlaut - das behaupten handabhackende Steinzeit-Islamisten wie die Taliban. Modernisten hingegen sagen, göttliches Recht sei für den Menschen ohnehin unbegreiflich. Es kann nur auf Basis menschlicher Vernunft interpretiert werden. So argumentierten im Mittelalter die Liberalen unter den Muslim-Rechtsgelehrten. Die Reformer des 20. Jahrhunderts sahen es ähnlich. Unausweichlich gerät aber auch eine moderate Scharia in Konflikt mit Rechtsvorstellungen, die als universal gelten: die Menschenrechte und die Frauenrechte, die Gleichberechtigung religiöser Minderheiten.

Ägypten war immer die arabische Vorreiter-Nation. Der ägyptische Weg nach dem "arabischen Frühling" wird Vorbildcharakter in Nahost haben. Das Ergebnis wird damit auch eine größere Frage beantworten: War der "arabische Frühling" nur Scharade, bei der beinharte Islamisten hervortreten hinter Jugendlichen, die im Kugelhagel ihr Leben für mehr Freiheit riskiert haben? Folgt der demokratischen Aufbruchstimmung der islamistische Abbruchbetrieb, in dem Frauenrechte mit Füßen getreten, Betrüger ausgepeitscht und Diebe amputiert werden?

Die "Arabellion" gibt den Ideen der Demokraten Auftrieb - aber eben auch denen der Islamisten. Der Diktatorenherbst ist ebenso demokratischer Aufbruch wie er als Ausdruck mangelnden Vertrauens in Teile der Moderne samt ihres säkularen Rechtsverständnisses gelten muss. Die Islamisten - und mit ihnen sympathisieren in Libyen oder Ägypten beträchtliche Teile der Menschen - fordern eine "islamische Alternative". Dies zeigt, in welch verkommener Form die westliche Moderne den Muslimen von ihren Diktatoren und Autokraten aufgezwungen wurde: Säkulares Recht ging Hand in Hand mit dem Folterstaat, der Korruption, der sozialen Ungerechtigkeit. Bei all dem war die Justiz nicht unabhängig, sondern Büttel des Regimes. Mubarak und Co. waren pro forma Staatschefs moderner Staatsgebilde - zu ihrem eigenen Vorteil blieben sie immer orientalische Despoten.

So kommt zwangsläufig die Scharia als seligmachende Alternative und Garant für die unerfüllte Hoffnung auf den gerechten Staat ins Spiel. Kernversprechen aller Islamisten - ob gemäßigt oder radikal - bleiben Gerechtigkeit und Moralität auf der Basis der göttlichen Ordnung: Was von Allah kommt, muss gut sein. Und die Scharia gehört dazu.

Der Streit hat am Ende aber nicht nur mit Religion, sondern auch mit dem Wunsch nach Emanzipation von der Vorherrschaft westlicher Gesellschaftsmodelle zu tun. Es ist ein politisches Anliegen, in dem die Ablehnung langjähriger Vorherrschaft des Westens über die nah- und mittelöstliche Region Ausdruck findet. Das macht die Rückbeziehung auf die eigene Kultur zwangsläufig. Das Nein zur Bevormundung durch den Westen bleibt ein Leitmotiv aller Politik in der islamischen Welt. Der Rückgriff auf "islamische Lösungen" samt Scharia ist der Refrain dazu.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema