Anschläge von Paris:Die Anklage lautet: Versuchter Polizistenmord

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  • In Brüssel steht der einzig überlebende Hauptverdächtige der Pariser Anschläge vom November 2015 vor Gericht.
  • Es geht jedoch nicht um das Geschehen in Paris, sondern um die Umstände seiner Ergreifung, bei der drei Polizisten verletzt wurden.
  • Die Anklage lautet auf versuchten Polizistenmord und könnte ihm 40 Jahre Haft einbringen.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Mitte Januar wurde in Brüssel der Terroralarm von der zweithöchsten Stufe drei auf zwei gesenkt. Nun patrouillieren weniger Soldaten auf öffentlichen Plätzen und in Verkehrsmitteln. Geblieben sind die Taschenkontrollen, selbst in der Oper, was zu langen Schlangen beim Einlass führt. In den Köpfen der Einwohner und erst recht der Opferangehörigen sind die Anschläge vor zwei Jahren ohnehin präsent - am 22. März 2016 sprengten sich drei Terroristen am Flughafen und in der Innenstadt in die Luft. Der Horror von damals mag in eine tiefere Bewusstseinsschicht gesackt sein, doch beim kleinsten Anlass kommt die Erinnerung daran zurück. Jetzt zum Beispiel, da die juristische Aufarbeitung des Geschehens beginnt.

Vor dem Strafgericht im klotzigen Justizpalast muss sich von diesem Montag an Salah Abdeslam verantworten. Der 28-jährige Brüsseler mit französischer Staatsangehörigkeit, dessen Familie aus Marokko stammt, ist der einzige überlebende Hauptverdächtige einer anderen Anschlagserie, der Pariser Anschläge vom November 2015. Er soll ein Fahrzeug gemietet haben, das während des Angriffs auf die Konzerthalle Bataclan benutzt wurde, bei dem 89 Menschen starben. Zudem soll er mehrere Selbstmordattentäter zum Stade de France gefahren und diverse logistische Hilfe geleistet haben. Er selbst brachte sich im Gegensatz zu seinen Mitstreitern nicht um, sondern fuhr mit zwei Komplizen am nächsten Morgen zurück nach Belgien. Kontrolleure stoppten sie auf der Autobahn - und ließen sie ziehen.

Pariser Anschläge
:"Er hat die Intelligenz eines leeren Aschenbechers"

Der Anwalt von Salah Abdeslam hebt die angebliche Dummheit des mutmaßlichen Paris-Attentäters hervor. Dieser sei "eher ein Mitläufer als ein Anführer" gewesen.

Einsatzkräfte werden von Kalaschnikow-Salven empfangen

Doch um seinen Anteil am Pariser Geschehen geht es in Brüssel noch nicht. Darüber wird später in Frankreich verhandelt werden, das seine Auslieferung erwirkt hat. Vielmehr werden die Umstände seiner Entdeckung beleuchtet, bei der drei Polizisten verletzt wurden. Nach mehr als drei Monaten auf der Flucht spürten Fahnder den europaweit gesuchten Abdeslam Anfang März 2016 bei einer Razzia in der Rue du Dries im Brüssler Stadtteil Forest auf. Als sich die französischen und belgischen Einsatzkräfte der Wohnung nähern, die sie leer wähnen, werden sie von Kalaschnikow-Salven empfangen.

Bei der Erstürmung erschießen die Polizisten den Algerier Mohamed Belkaid. Zwei Männer können fliehen, wahrscheinlich Abdeslam und der 24 Jahre alte Tunesier Soufien Ayari, der als mutmaßlicher Fluchthelfer ebenfalls vor Gericht steht. Drei Tage später werden die beiden in Molenbeek gefasst. In dem Einwanderer-Stadtteil war Abdeslam aufgewachsen, dort lernte er schon als Kind Abdelhamid Abaaoud kennen, den Drahtzieher der Pariser Anschläge, der später erschossen wurde.

Die Erleichterung in der Stadt, vor allem bei den Behörden, über deren Schlampereien Vernichtendes in den Zeitungen der Welt zu lesen war, ist gewaltig. Doch sie währt nur kurz. Vier Tage später, am 22. März 2016, töten drei Islamisten bei den beiden Selbstmordattentaten in Brüssel 32 Menschen. Erst jetzt erkennen die Ermittler den Umfang des Molenbeeker Terrornetzes, das hinter beiden Anschlagswellen steckt. Wahrscheinlich war Abdeslam auch in die Vorbereitung der Brüsseler Taten verwickelt.

Abdeslam sagt kein Wort mehr

Näheres würde das Gericht gerne von ihm selbst hören. Doch nur in den ersten Vernehmungen durch einen Pariser Untersuchungsrichter machte der junge Mann den Mund auf. Er gestand, ein Tatauto gefahren zu haben. Und dass sein Sprengstoffgürtel nicht funktionierte, weshalb er ihn weggeworfen habe. Die Aussage stand umgehend in den Medien. Abdeslam zog alles zurück und sagt seither offiziell kein Wort mehr. Beobachter bezweifeln, dass sich das nun vor Gericht ändern wird. Für die Betroffenen der Attentate ist dieses Schweigen schwer erträglich; eine belgische Zeitung sieht darin "ultime violence", also allerletzte, größtmögliche Gewalt.

Seine Verweigerungshaltung könnte, muss aber nicht mit den einzigartigen Haftbedingungen zusammenhängen. In Europas größtem Gefängnis in Fleury-Mérogis bei Paris sitzt Abdeslam in völliger Isolation ein. Sechs Infrarotkameras und zwei Wächter beobachten ihn rund um die Uhr, um ihn vom Suizid abzuhalten. Das einzige Stück Privatsphäre ist eine Wand vor der Dusche, die bis zum Bauchnabel reicht. Laut französischen Medien schwankt der Angeklagte zwischen Lethargie und Wutanfällen. Für die Dauer des zunächst auf fünf Tage angesetzten Prozesses wird Salah Abdeslam in ein Gefängnis bei Lille verlegt. Die Anklage lautet auf versuchten Polizistenmord und könnte ihm 40 Jahre Haft einbringen.

© SZ vom 05.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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