Aktuelles Lexikon:Viktimismus

Der Fall des Schauspielers Jussie Smollett provoziert zu der Frage: Sind Opfer wirklich Opfer?

Von Karin Janker

Dem Begriff nach leitet sich die Eindeutschung des englischen victimism vom lateinischen Wort für Opfer, victima, ab. Damit ist die Etymologie geklärt, sonst aber nicht viel. Denn im Begriff des Viktimismus überlagern sich vielfältige, emotional aufgeladene Diskurse: Die Wortschöpfung beschreibt die Absicht, sich selbst zum Opfer zu erklären, und impliziert, dass dies zu Unrecht geschieht. Historiker beschreiben damit etwa das im Nachkriegsdeutschland verbreitete Narrativ, die Deutschen seien Opfer der braunen Verführung gewesen. Inzwischen ist victimism zum Kampfbegriff derer geworden, die sich ihrerseits als Opfer des Viktimismus wähnen - weil er sie zu Tätern mache: Der Vorwurf trifft vor allem Feministinnen und Angehörige von Minderheiten, denen meist von Seiten der gesellschaftlichen Mehrheit unterstellt wird, sich zu Unrecht als benachteiligt darzustellen. Noch komplexer wird die Sache, wenn sich, wie nun offenbar in Chicago, ein Angehöriger einer Minderheit tatsächlich zu Unrecht als Opfer eines Überfalls, der nach derzeitigem Ermittlungsstand nie stattgefunden hat, in Szene setzt. Der Fall des Schauspielers Jussie Smollett ist auch deshalb so brisant, weil er all jenen Argumente liefert, die immer schon zu wissen glaubten, dass Rassismus und Homophobie gar nicht so dramatisch seien.

© SZ vom 23.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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