Akteneinsicht:Prozeß gegen einen Paragrafen

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Vor dem Landgericht Memmingen muss sich zwischen 1988 und 1989 der Frauenarzt Horst Teissen verantworten. Der Vorwurf: illegaler Schwangerschaftsabbruch in mehreren Fällen. Die Umstände des Prozesses sind skandalös - und beschäftigen schließlich auch den Bundesgerichtshof. (Foto: dpa, Collage: SZ)

Der Frauenarzt Horst Theissen steht Ende der Achtzigerjahre wegen des Vorwurfs illegaler Schwangerschaftsabbrüche vor einem bayerischen Gericht. Der Prozess ist ein Politikum.

Von Hans Holzhaider

Diese Reportage erschien am 14. September 1988 auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung. Als "Akteneinsicht" werden in den Feiertagsausgaben der SZ Berichte über große Prozesse der vergangenen Jahrzehnte nachgedruckt, versehen mit einer aktuellen Einordnung. Die Texte wurden in der Rechtschreibung ihrer Entstehungszeit belassen und eventuell leicht gekürzt.

Wenn das ein Scherz sein sollte - der Angeklagte kann jedenfalls nicht darüber lachen. "Kleve?", hatte Albert Barner, der Vorsitzende Richter der 1. Strafkammer beim Landgericht Memmingen nachgefragt, als der Frauenarzt Horst Theissen seinen Geburtsort nannte. "Kleve? Das liegt aber noch nicht in Holland?" In Holland, wie jeder weiß, sind die gesetzlichen Vorschriften für einen Schwangerschaftsabbruch nicht so streng wie in der Bundesrepublik. Horst Theissen ist angeklagt, in 156 Fällen eine Schwangerschaft abgebrochen zu haben, ohne daß eine der gesetzlichen Indikationen dafür vorgelegen habe. Weil Horst Theissen dafür auch Geld bekommen hat, nimmt der Staatsanwalt jeweils einen "besonders schweren Fall" an. Höchststrafe für jeden Einzelfall: Fünf Jahre Gefängnis.

Die Geschichte dieses Prozesses, der sich mit 32 Verhandlungstagen bis in den Februar 1989 hinziehen wird, beginnt im Finanzamt Memmingen, wo eines Tages im Sommer 1986 ein anonymer Brief einging. Der unbekannte Schreiber teilte mit, Dr. Theissen habe hohe Beträge, die er für Schwangerschaftsabbrüche eingenommen habe, nicht versteuert, schriftliche Belege dafür seien in seiner Praxis zu finden, schnelles Handeln sei geboten.

Steuerfahnder beschlagnahmten die Karteikarten von mehr als tausend Patientinnen

Das Finanzamt handelte schnell. Binnen weniger Tage erschienen die Steuerfahnder in Theissens Praxis, ausgerüstet mit einem Durchsuchungsbefehl des Amtsgerichts Memmingen, und beschlagnahmten nach einer Durchsicht der gesamten Patientenkartei die Karteikarten von 1390 Patientinnen. Gemeinsames Kennzeichen: Ein großes "I" auf der Karteikarte - für einen Schwangerschaftsabbruch (Interruptio). Ambulante Schwangerschaftsabbrüche in einer Arztpraxis sind in Bayern immer illegal, weil hier, anders als in allen anderen Bundesländern außer Baden-Württemberg, eine Abtreibung ausschließlich im Krankenhaus vorgenommen werden darf. Also benachrichtigten die Steuerfahnder die Staatsanwaltschaft, die unverzüglich ihrerseits die Karteikarten beschlagnahmen ließ. Dann machte sich Staatsanwalt Herbert Krause an die langwierige Arbeit, 1390 Karteikarten durchzulesen, die eine Vielzahl intimster Angaben über die Patientinnen enthielten. Rund die Hälfte konnte er gleich aussondern - die "Taten" waren verjährt. Bei den übriggebliebenen hatte er zu prüfen, ob eine Indikation vorlag oder nicht. In mehr als 150 Fällen kam der Strafverfolger zu dem Ergebnis, die Frau habe sich keineswegs in einer Notlage befunden, die einen Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt hätte. 176 Strafbefehle wurden geschrieben, die meisten Frauen zahlten schweigend, einige wenige zogen vor Gericht, nur zwei wurden freigesprochen.

Wie stellt ein 34jähriger Jurist fest, ob sich eine Frau, die unerwünscht schwanger geworden ist, in einer schweren Notlage befindet? Er stellt einen Katalog von Fragen zusammen - nach den familiären Verhältnissen, den Eltern, Freunden, dem Ehemann und, falls mit diesem identisch, dem "Erzeuger", nach Einkommen und Schulden, nach den Bedingungen am Arbeitsplatz und entscheidet dann: Notlage oder nicht.

Dr. Horst Theissen, 49 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, machte das anders. Er ist ein ruhiger, milde wirkender Mann mit grauen Haaren und grauem Bart, ein Freund der Anthroposophie Rudolf Steiners, ein Anhänger der Homöopathie und der Naturheilkunde. Streng katholisch erzogen, hat er sich während seines Studiums von einer katholischen Burschenschaft getrennt, weil ihm schien, daß deren hochherzige Grundsätze in zuviel Bier ertränkt wurden. Aus der FDP, für die er sechs Jahre lang im Kreistag und im Gemeinderat saß, trat er nach der Wende in Bonn aus.

"Wenn ich die Notlage nachempfinden konnte, war das für mich eine Indikation"

Sein medizinisches Credo, erläutert er dem Gericht, sei stets gewesen, der Patientin mit einem Mindestaufgebot an Eingriffen und unter Wahrung ihrer psychischen und physischen Integrität zu helfen. Stets habe er sich von Frauen, die ihn um einen Schwangerschaftsabbruch baten, ausführlich über ihre Situation unterrichten lassen, habe sie auf mögliche psychische Folgen eines Abbruchs hingewiesen, habe mögliche Alternativen mit ihnen beraten. Nicht immer sei er der Bitte der Frauen nachgekommen, etwa jede Zehnte habe er abgewiesen. Aber sehr oft seien die Frauen schon in einer verzweifelten Situation zu ihm gekommen. Andere Ärzte hatten sie weggeschickt, ins Krankenhaus wollten sie auf keinen Fall, weil dann die Nachbarn, die Freunde, der Arbeitgeber hätten merken können, was los ist. Auf dem Land, schildert Theissen dem Gericht, das aus fünf Männern besteht, gehe so etwas eben nicht unbemerkt vor sich. Richter Albert Barner muß sich wundern: "Ich habe nicht gewußt, daß Frauen heute noch so eingeengt sind." Und was, fragt Richter Barner den Angeklagten, habe ihm denn als Kriterium dafür gedient, ob eine Notlage vorlag oder nicht? "Wenn ich die Notlage nachempfinden konnte, dann war das für mich auf jeden Fall eine Indikation", antwortet Theissen.

Staatsanwalt Herbert Krause kann sich mit einer so subjektiven Beurteilung nicht zufriedengeben. 156 Fälle sind für die Anklage gegen Horst Theissen übriggeblieben. 156 Namen werden in der Anklageschrift verlesen, und wenn von den zahlreichen Zuhörerinnen auch nur ein paar aus Neugier in den Gerichtssaal gekommen sind, dann wird es im Allgäu und in den Nachbarprovinzen in den nächsten Wochen an Dorfklatsch keinen Mangel geben. In anderen Bundesländern sind ähnliche Verfahren gegen Frauen in der Vergangenheit fast immer wegen geringer Schuld eingestellt worden. Warum nicht in Bayern? Gab es eine Weisung aus dem bayerischen Justizministerium, hart durchzugreifen? Pressesprecher Hans-Peter Huber versichert, es habe nichts dergleichen gegeben. Aber vielleicht bedurfte es gar keiner ausdrücklichen Weisung.

Wenn Staatsanwalt Herbert Krause und sein Chef, Oberstaatsanwalt Peter Stoeckle, ihre Nasen ein bißchen in den bayerischen Wind gehalten haben, dann konnten sie leicht erschnuppern, welche Gangart in Sachen Schwangerschaftsabbruch derzeit bei der bayerischen Staatsregierung erwünscht ist. Hat nicht Edmund Stoiber, der Leiter der Staatskanzlei, vor knapp einem Jahr von den 300 000 "Morden an ungeborenen Kindern" gesprochen und den "offensichtlichen Mißbrauch der sozialen Indikation" gegeißelt?

Die bayerische Justiz prüft Maßnahmen gegen eine Pille, die es noch gar nicht gibt

Stoiber war es auch, der dem Fuldaer Bischof Johannes Dyba, welcher die Abtreibungen einen "Kinder-Holocaust" genannt hatte, dafür Respekt und Anerkennung aussprach. Das Arbeits- und Sozialministerium legte vor wenigen Wochen die Neufassung einer Ausführungsbestimmung zum bayerischen Schwangerenberatungsgesetz vor, aus der alle jene Passagen getilgt sind, die einer Frau auch dann Rat und Hilfe zugestehen, wenn sie sich nicht vom Schwangerschaftsabbruch abbringen läßt. Die bayerische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner hat ihre Beamten angewiesen, gesetzgeberische Maßnahmen gegen eine "Abtreibungspille" zu prüfen, die noch gar nicht auf dem Markt ist. Ebenfalls aus dem Justizministerium kam die Initiative für ein neues Adoptionsgesetz, das einer Schwangeren sozusagen eine staatliche Abnahmegarantie für ihr ungeborenes Kind zusichern sollte.

In diesem Trend liegen auch die Urteile der Memminger Amtsrichter gegen Frauen, die abgetrieben hatten. Sie könnten die Notlagenindikation schon deshalb nicht in Anspruch nehmen, hieß es in den Urteilsbegründungen, weil es einen zumutbaren Ausweg gegeben habe: die Kinder auszutragen und zur Adoption freizugeben.

Wenn durch eine solche Interpretation des Paragraphen 218 die Notlagenindikation in Bayern de facto abgeschafft würde, dann käme das der CSU durchaus nicht ungelegen. Kaum eine größere Parteiveranstaltung, bei der sich nicht die Parteispitze mit den Fundamentalisten im eigenen

Lager herumschlagen muß, die auf eine bayerische Initiative zur Verschärfung der Abtreibungsparagraphen dringen. Darauf freilich wollen sich Strauß und Stoiber, bei allem verbalen Radikalismus, nicht einlassen. Aber nach dem Memminger Prozeß kann den radikalen Abtreibungsgegnern in der eigenen Partei ent- gegengehalten werden, daß der Schutz des ungeborenen Lebens in Bayern auch ohne Strafrechtsverschärfung funktioniert.

© SZ vom 05.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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