Afghanistan:Warten auf die politische Kernschmelze

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Trübe Aussichten: Ein Kind schaut durch das Fenster einer Flüchtlingsunterkunft am Rand der Stadt Herat, im Westen Afghanistans. Laut Erhebungen der Vereinten Nationen sind allein seit Anfang dieses Jahres mehr als 100 000 Menschen zusätzlich innerhalb des Landes auf der Flucht. (Foto: Hoshang Hasimi/AFP)

Die Bundesregierung schiebt weiter Afghanen in ihr Heimatland ab. Dabei gehören dort Anschläge und Vertreibung zum Alltag. Die Taliban verweigern sich Gesprächen mit der Kabuler Regierung.

Von Tobias Matern, München

Am Mittwochmorgen ist wieder ein Flugzeug mit 15 Männern in Kabul gelandet. Die Bundesregierung hat sie abgeschoben. Unter ihnen waren nach Angaben aus dem Bundesinnenministerium zwölf Straftäter und drei sogenannte Identitätsverweigerer. Es bestehe nach wie vor Einigkeit innerhalb der Bundesregierung, dass "Gefährder und Personen, die sich hartnäckig einer Identitätsfeststellung verweigern, abgeschoben werden können", sagte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums am Mittwoch. Es handele sich bei den Abgeschobenen um Personen, denen "nach Abschluss eines rechtsstaatlichen Verfahrens unter Beachtung aller Aspekte des Einzelfalls unter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht".

Die Bundesregierung schiebt zwar nur eine kleine Gruppe Afghanen ab, sieht sich aber dennoch Kritik ausgesetzt, weil Afghanistan auch im 17. Jahr des Konflikts extrem instabil ist. Nach aktuellen Zahlen der Vereinten Nationen starben allein in diesem Jahr bisher 763 Menschen an den Folgen der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den vom Westen unterstützten Regierungstruppen und den Taliban. 1495 Menschen erlitten Verletzungen. Die Werte hätten sich im Vergleich zu den beiden Jahren zuvor kaum geändert. Ebenfalls nach UN-Angaben sind allein seit Beginn dieses Jahres mehr als 100 000 neue Binnenflüchtlinge zu verzeichnen.

All diese Zahlen stimmen wenig optimistisch - dabei gab es kürzlich einen Moment der Hoffnung für Afghanistan. Präsident Ashraf Ghani hatte den Taliban weitreichende Angebote gemacht, falls sie ihre Waffen niederlegten. Sogar über die Verfassung wollte der Staatschef mit den Islamisten sprechen, was aus Sicht der westlichen Regierungen eine heikle Angelegenheit hätte werden können. Schließlich sind in dieser auch die Rechte von Frauen verbrieft, und diese zu bewahren, gilt nach wie vor als eines der Ziele in Afghanistan.

Afghaninnen genießen zwar de facto nach wie vor nicht die gleichen Möglichkeiten wie Männer, aber wenn Ghani nun diesen Passus den Taliban als Verhandlungsmasse anböte, könnte ein zentrales Motiv des westlichen Einsatzes in Afghanistan mit Füßen getreten werden. Aber zu diesen Verhandlungen wird es vorerst nicht kommen. Ghanis Angebot ist etwa drei Monate alt, er hat es auf einer internationalen Konferenz in Kabul gemacht, darauf folgten weitere hochrangig besetzte Treffen. Den Friedensprozess hat Ghani damit indes nicht voranbringen können - die Aufständischen ignorieren den Aufruf.

Der Präsident wollte mit den Aufständischen reden. Die ignorierten den Aufruf

Seither haben die Taliban vielmehr ihre alljährliche sogenannte Frühjahrsoffensive begonnen und dabei auch ein paar Distrikte unter ihre Kontrolle gebracht. Selbst eine Provinzhauptstadt haben sie kurzzeitig gestürmt, auch wenn der Gouverneur der Region bereits einen Tag später betonte, die Aufständischen seien vertrieben worden. Obwohl westliche Diplomaten immer wieder mal betonen, auch die Taliban wollten sicherlich nicht ewig kämpfen, lässt sich aus dem Verhalten der Aufständischen keinerlei Verhandlungswille ablesen - was sich auch in der nach wie vor hohen Frequenz von Anschlägen ausdrückt. Allein am Dienstag starben landesweit mehr als 30 Menschen bei solchen Attacken.

"Die Taliban wollen unbedingt zeigen, dass sie nicht nur dem Druck des US-Militärs standhalten, sondern auch, dass sie den afghanischen Kräften enormen Schaden zufügen und ihr Einflussgebiet ausweiten können", sagt der Kabuler Politikanalyst Haroun Mir. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive hätten die Islamisten verdeutlicht, dass sie in der Lage seien, das vorherrschende militärische Patt "zu ihren Gunsten aufzulösen" - mit gravierenden Folgen: "Der Friedensprozess ist bis auf Weiteres tot. Die Taliban wollen direkt mit den USA verhandeln und die afghanische Regierung umgehen", sagt Mir. Doch darauf will sich die US-Regierung eigentlich nicht einlassen: Eine Friedenslösung müsse eine afghanische Handschrift haben, betont Washington.

Den Taliban spielt auch die politische Instabilität in Kabul in die Hände. Die für Herbst angesetzten Parlamentswahlen sind in Gefahr, auch die Abstimmung über den afghanischen Präsidenten im Jahr 2019 ist aus Sicht des Analysten Mir keineswegs gesichert: "Die Taliban warten auf die politische Kernschmelze in Kabul, was die USA unter Druck setzen würde, direkt mit ihnen zu verhandeln." Das Verhältnis von Präsident Ghani und Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah gilt als angespannt. Um Abdullah einzubinden, hatten die USA nach der Präsidentschaftswahl zwischen ihm und Ghani eine Einigung vermittelt. Doch zahlreiche Beobachter sind sich einig: Die Regierungsmitglieder verbringen mehr Zeit damit, sich selbst zu bekämpfen, als eine geschlossene Front gegen die Taliban zu bilden.

© SZ vom 24.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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