Äthiopiens neuer Premier:Revolutionär aus dem alten Regime

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Abiy Ahmed beendete den Konflikt mit Eritrea in wenigen Monaten. Von ihm hatte das kaum jemand erwartet.

Von Bernd Dörries

"Ich bin so glücklich und so begeistert über die Nachricht": Abiy Ahmed wurde Anfang April 2018 Regierungschef in Addis Abeba. Er leitete rasch innenpolitische Reformen ein, entließ Tausende politische Gefangene und suchte den Ausgleich mit dem nördlichen Nachbarn Eritrea. (Foto: Francisco Seco/AP)

Als Feind war man sich so lange vertraut, war alles klar und einfach, als Freund weiß man noch wenig übereinander. Es ist ein Nachmittag im Juli 2018 in der Millennium Hall in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, einem flachen Zweckbau, in dem sich Zehntausende Menschen versammelt haben, äthiopische und eritreische Flaggen schwenken und mit Ausdauer immer wieder "Friede, Friede, Friede" rufen, immer schneller, immer lauter. Oben auf der Empore sitzen die Ehrengäste an eingedeckten Tischen, es wird äthiopischer Roséwein serviert, an der Wandseite machen sich Köche daran, zwei ganze Rinder in handliche Filetstücke zu zerteilen, was in Äthiopien als äußerste Delikatesse gilt.

Weil man nun aber gar nicht weiß, ob der Feind von gestern und Freund von heute das Fleisch überhaupt roh mag, schieben zwei Kellner einen kleinen Grill an jenen Tisch, an dem Isaias Afewerki sitzt, der Präsident Eritreas. Er ist an diesem Tag nach Äthiopien gekommen, um den Frieden zu begießen, den er gerade mit dem äthiopischen Regierungschef Abiy Ahmed geschlossen hat. Die Gesichter der beiden werden auf eine große Leinwand in der Halle übertragen. Das von Isaias sieht lange so aus, als handele es sich um ein Standbild, seine Züge bewegen sich kaum. Der plötzliche Friede kam so überraschend, dass er wie ein Schock auf den alternden Diktator gewirkt haben muss. Neben ihm sitzt ein jugendlich lachender Abiy.

Sein Partner, Eritreas Präsident, ging leer aus. Das ist ein Zeichen

Zwei Jahrzehnte lang hatte der Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea gedauert, hatten die Regime auf beiden Seiten Zehntausende in den Tod geschickt in einer Auseinandersetzung, in der es um ein paar Flecken Wüste ging, den Meereszugang, vor allem aber darum, dass keine Seite nachgeben wollte. Es erschien so, als sei der Krieg schon immer da gewesen und werde auch bleiben. Bis im April 2018 plötzlich eine neue Generation an die Macht kam in Äthiopien; der neue 41-jährige Ministerpräsident Abiy stellte das Land wie im Rausch auf den Kopf. Es ließ die politischen Gefangenen frei, hob die Pressezensur auf, kündigte Wahlen an und eine neue Zeit, bot dem Nachbarn die Aussöhnung an.

Am Freitag hat Abiy dafür den Friedensnobelpreis bekommen, sein Kollege Isaias auf der anderen Seite aber nicht. Eine eher ungewöhnliche Entscheidung, weil das Komitee in vergleichbaren Fällen, beim Frieden zwischen Israel und Ägypten und der Friedenssuche in der Palästinenserfrage, Vertreter beider Seiten ehrte. Nur fragte sich das Nobelkomitee wohl auch, was es an Isaias denn zu ehren gebe? Der 73-Jährige regiert das kleine Eritrea seit mehr als einem Vierteljahrhundert, Wahlen hat es seitdem nicht gegeben.

Der Krieg gegen den Nachbarn diente den Herrschern viele Jahre lang als Begründung dafür, die Bevölkerung zwangsweise zum Nationalen Dienst zu rekrutieren, der offiziell 18 Monate dauert, für nicht wenige aber ein Leben lang. Sie schuften auf Baustellen in sengender Hitze oder in den Villen der Parteibonzen. Man werde den Dienst überdenken, sagte Informationsminister Yemane Gebremeskel der SZ in einem Interview im Juli 2018. Danach hat sich das Regime aber dazu entschlossen, alles beim Alten zu lassen. Im Frühling wurden die Grenzen zu Äthiopien wieder geschlossen, angeblich, weil der Ansturm zu groß gewesen sei. Der geht in Wahrheit aber in die andere Richtung, bis zu 10 000 Menschen sollen das Land im Monat verlassen haben, berichteten die UN. Diejenigen, die fliehen sagen: Die alten Betonköpfe in Eritrea werden sich niemals ändern.

Dasselbe hatten viele auch vom Regime in Äthiopien vermutet. Dort regiert seit 1991 die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF), die aber weder besonders revolutionär noch demokratisch war. Ihre Kämpfer hatten das Land einst von einer mörderischen pseudokommunistischen Diktatur befreit, waren dann jedoch selbst zu sturen Autokraten geworden, die zwar versuchten, die Wirtschaft nach chinesischem Modell zu entwickeln, in Fünfjahresplänen ehrgeizige Ziele vorgaben. Manches gelang: Es wurden Hunderttausende Sozialwohnungen und eine Zugstrecke nach Dschibuti gebaut, Textilbetriebe angesiedelt. Viele Projekte versanken aber in einer Mischung aus Lustlosigkeit und Korruption.

Unter den vielen Millionen jungen und gut gebildeten Äthiopiern wuchs die Unzufriedenheit mit einer Führung, die vor allem aus dem Volk der Tigray bestand, das im Vielvölkerstaat Äthiopien aber nur eine kleine Minderheit von sechs Prozent ausmacht. Das Regime stand vor der Alternative, den Protest weiter gewaltsam zu unterdrücken oder sich zu öffnen. Die Wahl fiel auf Abiy Ahmed, der vielen Äthiopiern damals weitgehend unbekannt war. Er schien beides zugleich zu sein, ein Signal, dass sich etwas ändern werde - aber nicht zu viel. Abiy ist der erste Oromo an der Spitze des Staates und stammt damit aus der größten Bevölkerungsgruppe. Gleichzeitig galt er bei seiner Ernennung als ein Mann des Systems, der in der Armee gegen Eritrea gekämpft und dann einen Geheimdienst mitgegründet hatte, der sich um die Zensur des Internets bemühte. Das klang nicht nach Revolution. Aber es kam anders.

"Liebe" war eines der meistbenutzten Wörter des neuen Premiers

Kurz nach seiner Ernennung begann Abiy damit, das Land auf den Kopf zu stellen. Frühere Oppositionelle wurden zur Mitarbeit in der Regierung eingeladen, Menschenrechtsaktivistinnen zu Richterinnen ernannt. "Liebe" wurde zu einem der meistgenutzten Worte des Premiers. In Äthiopien brach eine wilde Abiymania aus, die Kioske der Hauptstadt verkauften Hunderttausende T-Shirts mit seinem Konterfei, Biografien wurden verlegt, Lieder getextet, die von seinen Erfolgen erzählten.

Abiy versprach eine bessere Zukunft, kündigte an, das Land für Investitionen zu öffnen, die staatlichen Betriebe zumindest teilweise zu privatisieren. Er ließ besonders korrupte Mitglieder seiner Partei verhaften und begann gegen das Konglomerat Metec zu ermitteln, eine Firma, die der Armee gehört und zahlreiche öffentliche Aufträge bekam, aber nur mangelhafte Qualität zustande brachte und für die Generäle eine Gelddruckmaschine war - die Abiy nun einfach anhielt. Wenig später versuchten Attentäter, ihn mit einer Granate zu töten. Hunderttausende Äthiopier zeigten Solidarität mit ihrem Regierungschef, es war der Höhepunkt seiner Popularität. Diese ist zwischenzeitlich etwas abgeflaut, was einerseits an einer gewissen Selbstverliebtheit liegt, die vielen auf die Nerven geht. Das Staatsfernsehen werde künftig nicht nur stets den Doktortitel des Ministerpräsidenten erwähnen, sondern ihn auch als "Träger des Friedensnobelpreises" ansprechen, witzeln Äthiopier am Freitag in den sozialen Medien.

Der Nobelpreis könnte Abiy nun aber helfen, die vielen Probleme anzugehen. Noch nicht einmal zwei Jahre ist er im Amt, zu wenig, um all die Aufgaben zu lösen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgetürmt haben. Für viele Äthiopier hat sich die persönliche Lage unter der neuen Führung sogar verschlechtert, trotz aller Reformen oder gerade ihretwegen. Die politische Öffnung und Zulassung vieler Parteien haben auch dazu geführt, dass viele Regionen und Völker nach Unabhängigkeit streben, ihren eigenen Staat gründen wollen. Viele Rebellen haben ihre Waffen niedergelegt, andere tun sich schwer damit, Konflikte nun friedlich auszutragen. Mehr als drei Millionen Äthiopier sind wegen ethnischer Rivalitäten auf der Flucht, im April wurde ein Regionalpräsident von Attentätern getötet. Die Regierung von Abiy reagiert auf die Gewalt oft mit Mitteln, die eigentlich der Vergangenheit angehören sollten. Eine Sprecherin des Nobelpreiskomitees sagte: "Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut, und auch Frieden und Sicherheit werden nicht in kurzer Zeit erreicht werden können." Der Preis sei auch eine Ermunterung, den eingeschlagenen Reformweg nun fortzusetzen.

© SZ vom 12.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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