Ärztegewerkschaft:"Blütenträume mancher Arbeitgeber sind zerplatzt"

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Der Internist Rudolf Henke, 63, ist Vorsitzender des Marburger Bunds. Zusammen mit vier weiteren Spartengewerkschaften hatte die Ärztegewerkschaft Verfassungsbeschwerde gegen das Tarifeinheitsgesetz eingelegt. (Foto: Uli Deck/dpa)

Der Marburger Bund kann dem Karlsruher Spruch durchaus Gutes abgewinnen.

Interview von Detlef Esslinger

SZ: Das Verfassungsgericht hat ein Ja-aber-Urteil gesprochen. Die Richter halten das Gesetz zur Tarifeinheit zwar für weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar, aber sie verlangen Korrekturen. Haben Sie nun gewonnen oder verloren?

Rudolf Henke: Also, das Gesetz wurde in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt. Unsere Argumentation war, dass durch den Zwang zur Tarifeinheit Grundrechte von Berufsgewerkschaften wie dem Marburger Bund erheblich beeinträchtigt werden. Diese grundsätzliche Kritik hat das Verfassungsgericht aufgenommen und weitreichende Schutzvorkehrungen für die Mitglieder von Minderheitsgewerkschaften verlangt. Es hat das Gesetz umgeschrieben und viele Hinweise gegeben, wie die Arbeitsgerichte es künftig auslegen müssen.

Na ja, das Gericht hat beim Gesetzgeber einige wenige Änderungen bestellt.

Das Gesetz ist von ihm nicht gleich begraben, wohl aber auf die Intensivstation geschickt worden. Und es hat auch sogleich mit der Behandlung begonnen. Die Verfassungsrichter haben dem Gesetzgeber aufgetragen sicherzustellen, dass auch die Rechte und Interessen von gewerkschaftlichen Minderheiten im Betrieb gewahrt werden. Das ist der Erfolg unserer Klage. Was für ein Gesetzestext dabei herauskommt, kann man jetzt allerdings noch nicht absehen.

Wie sollten die Vorkehrungen aussehen?

Tja, gute Frage. Einerseits soll künftig der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Andererseits soll der Schutz der Minderheitsgewerkschaft gewährleistet sein. Unsere eigene Historie zeigt doch, dass es uns nicht darum geht, einen Betrieb mit Streiks lahmzulegen, sondern nur unsere spezifischen Interessen zu vertreten. Bis 2005 haben wir immer mit Verdi gemeinsam Tarifverträge ausgehandelt, für die Gesamtbelegschaft eines Klinikums. Dann aber vereinbarten Verdi-Chef Bsirske und der damalige Bundesinnenminister Schily den neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, der die Ärzte jeweils einen fünf- bis sechsstelligen Betrag gekostet hätte, bezogen auf das gesamte Berufsleben. Seitdem verhandeln wir separat.

Hört sich so an, als hielten Sie das Urteil für unpraktikabel?

Das Gesetz wird so geändert werden, dass es viel Interpretationsspielraum lässt. Da werden die Arbeitsgerichte viel zu tun bekommen, da werden viele Anwaltskanzleien viel Geld mit verdienen. Immerhin bleibt uns unser Streikrecht erhalten.

Inwiefern?

Ich hatte ja immer die Befürchtung: Wenn künftig eine Minderheitsgewerkschaft wie wir zum Streik aufruft, wird ein solcher Arbeitskampf vom Arbeitsgericht als unverhältnismäßig und damit rechtswidrig gewertet werden - weil wir ja eh kein Recht mehr auf einen eigenen Tarifvertrag haben, sondern nur noch den der größeren Gewerkschaft nachzeichnen dürfen. Nun sagt aber das Bundesverfassungsgericht, dass auch wir weiter ein Streikrecht haben. Dies sei Ausdruck des Wettbewerbs unter den Gewerkschaften. Das erleichtert mich sehr. Viele Blütenträume mancher Arbeitgeber sind damit zerplatzt.

Sie spielen auf einen Passus im Urteil an. Dieser erlaubt einer Gewerkschaft, Verhandlungen überhaupt nur unter einer Voraussetzung führen zu wollen: dass der Arbeitgeber erklärt, den Tarifvertrag hinterher auch anzuwenden und nicht verdrängen zu lassen.

Genau. Und um den Arbeitgeber zu dieser Erklärung zu zwingen, darf ich streiken.

Wird künftig in den Betrieben ausgezählt werden müssen, welche Gewerkschaft dort die meisten Mitglieder hat?

Falls zwei Gewerkschaften in einem Betrieb kollidieren, hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, vor Gericht zu ziehen und die Mehrheit feststellen zu lassen.

Damit gäbe eine Gewerkschaft ihr größtes Geheimnis preis: die Angabe, wie viele Mitglieder sie in einem Betrieb hat - wie viele Beschäftigte sie dort also bei Bedarf zum Streik aufrufen könnte.

Das Arbeitsgericht soll nach den Vorstellungen des Verfassungsgerichts nur feststellen, wer die Mehrheit hat, nicht aber die genauen Zahlen verraten. Wir Gewerkschaften werden uns sehr fragen müssen, was dieses Urteil für uns organisationspolitisch heißt.

Was meinen Sie damit?

Dieses Urteil heizt den Häuserkampf an. Da das Gesetz grundsätzlich der Mehrheitsgewerkschaft Vorteile verschafft, werden alle Gewerkschaften nun versuchen, in ihren jeweiligen Betrieben die Mehrheit zu bekommen. Für uns als Marburger Bund heißt das: Wir haben ja reichlich Anfragen von Pflegern und Physiotherapeuten, die gerne bei uns Mitglied werden möchten. Bisher organisieren wir nur Ärzte. Aber jetzt stellt sich die Frage, ob es bei dieser Beschränkung bleiben soll.

© SZ vom 12.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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