Für die wahrhaft Gläubigen gibt es Hoffnung selbst in aussichtsloser Lage. Die Muslimbrüder sind entmachtet, ihre Führer in Haft, selbst Ex-Präsident Mohammed Mursi wird verhört. Aber phantasievolle Scheichs gaukeln Mursis Anhängern göttlichen Beistand vor: Erzengel Gabriel, der einst dem Propheten den Koran offenbarte, sei mitten unter ihnen im Kairoer Stadtteil Nasr-City, schwadronierte einer. Ein anderer berichtete von einer Vision: Darin drohte eine Karawane aus 50 Kamelen zu verdursten, aber siehe, der Allmächtige öffnete die Erde und ließ Wasser fließen. Während die Menschen tranken, ertönte eine Stimme: "Sorgt für die Kamele von Präsident Mursi!"
Seriöse Köpfe unter den Muslimbrüdern kritisierten solchen Hokuspokus, aber die meisten sind überzeugt, dass Mursi ein göttlich bestimmter Führer ist wie einst der Kalif. Mursis Opponenten kontern ebenso kompromisslos: Wer das Heilige missbraucht, komme durch das Heilige um. Ohnehin sehen viele Ägypter die Haftbefehle gegen die Islamisten ohne Bedauern. Der Hass auf die einst als Retter der Nation Bejubelten hat etwas Exorzistisches, als ließe sich politische Verantwortung für eine Wahlentscheidung abspalten und einsperren. Aber die Schadenfreude ist auch eine Reaktion auf die repressive Politik der Islamisten, auf den Terror gegen die Medien, die Folter- und Schlägertrupps. Überhaupt wirkt manche Kritik an Mursis Entmachtung seltsam legalistisch: Ein Präsident, der demokratisch gewählt ist, aber jede demokratische Kontrolle ausschaltet, ist kein Demokrat mehr.
Darf man Mursi deswegen festhalten? Ohne Gerichtsbeschluss, wie in finstersten Mubarak-Zeiten? Ist es glaubwürdig oder nützlich, wenn ihm nun womöglich der Prozess gemacht wird, weil er während des Aufstandes gegen Mubarak aus einem Wüstengefängnis ausgebrochen ist - mithilfe der Hamas, wie es heißt?
Amerika und Deutschland fordern Mursis Freilassung. Politisch wäre es ein kluger Schritt. Wer Wert legt auf eine Teilnahme der Muslimbrüder an den nächsten Wahlen, muss flexibler sein, als die Bruderschaft es ist. Noch stehen die Islamisten unter Schock, noch ist die Kränkung größer als die Selbstkritik. Schon deshalb sollte man neue Märtyrer vermeiden. Juristische Transparenz wäre hilfreich, aber für viele Mursi-Gegner beschränkt sich die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit vor allem auf die Behandlung der eigenen Leute.
Zudem haben die Ausfälle gegen Palästinenser und Syrer als vermeintliche Nutznießer der Muslimbrüder und Feinde des ägyptischen Volkes inzwischen bedenkliche Züge angenommen. Die Medien spielen dabei eine fatale Rolle, die privaten, die oft Anhängern des alten Regimes gehören, und die staatlichen, die nach einer bemerkenswerten Volte nun die Islamisten diffamieren. Die islamistischen Sender sind abgeschaltet, aber nun hetzen die Prediger auf Protesten und im Internet.
Wenn die Staatsanwaltschaft zudem Anzeigen gegen Mursi wegen Spionage und Schädigung der Volkswirtschaft prüft, ist auch dies bedrückend vertraut. Schon unter Mubarak und Mursi dienten die "wachsamen Bürger" als Vorhut der juristischen Verfolgung. Viele Ägypter wischen solche Bedenken gegen die neue Ordnung vom Tisch. Wenn uns der nächste Präsident nicht passt, sagen sie, machen wir eben eine neue Revolution, als ließe sich die Armee gegen jeden Herrscher einsetzen, als wären nicht die Generäle die wahren Herrscher. Der ägyptische Intellektuelle Farag Fouda schrieb einst, Ägypten bewege sich angesichts einer fehlenden zivilen Opposition in einem Teufelskreis aus Militärregierung und religiöser Herrschaft. Fouda wurde in den Neunzigern von religiösen Fanatikern erschossen. Der Teufelskreis ist bis heute nicht durchbrochen.