Abschuss des russischen Kampfjets:Wenn der Streit eskaliert

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Russlands Eingreifen in Syrien stört die Türkei schon länger. Der Jet war wohl im Einsatz gegen Ankaras Verbündete.

Von Paul-Anton Krüger und Mike Szymanski

Es sieht wie ein Komet aus, was da vom Himmel fällt. Aber es ist kein Komet. Je näher das Ding kommt, einen Feuerschweif hinter sich herziehend, desto genauer wird es erkennbar: Militärgrau. Ein schmaler Rumpf, Stummelflügel. Ein Kampfflugzeug. Wenige Augenblicke später schlägt der Flieger mit einem lauten Knall in einem Waldgebiet auf.

Roter Berg, Kızıldağ, heißt die Gegend auf Türkisch. Jenseits der Grenze nennen sie die Berge Jebel Turkman, nach der turkmenischen Minderheit in Syrien, die hier lebt. Es ist ein unruhiger Ort in einem unruhigen Land: Syrien ist Kriegsgebiet. Wenige Kilometer jenseits der türkischen Grenze kämpfen eng mit der Regierung in Ankara verbundene Rebellen gegen das Assad-Regime, gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), gegen Freischärler der kurdischen Volksbefreiungseinheiten. Und jetzt fällt hier um 9.24 Uhr ein Jagdbomber vom Himmel, Typ Sukhoi Su-24.

Bald wird sich herausstellen: Es war ein Flugzeug der russischen Luftwaffe. Und nicht eines der Syrer.

Um 10.55 Uhr veröffentlicht der türkische Generalstab eine kurze Erklärung. Die Maschine habe den türkischen Luftraum verletzt. Die Besatzung sei mehrmals gewarnt worden, zehn Mal in fünf Minuten. Dann hätten zwei F-16-Kampfjets "eingegriffen". Dort steht nicht: abgeschossen, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt schon die wahrscheinlichste Variante ist.

Die Russen bestätigen, ihr Flugzeug sei getroffen worden, in 6000 Metern Höhe. Aber nicht aus der Luft, sondern vom Boden aus, wie es zunächst heißt. Am Nachmittag dann sagt Präsident Wladimir Putin: "Unser Flugzeug wurde über syrischem Gebiet von einer Luft-Luft-Rakete getroffen, die von einer türkischen F-16 abgefeuert wurde." Zuvor hatte Moskau schon verlauten lassen, man könne beweisen, dass die Piloten ausschließlich über Syrien unterwegs gewesen seien.

Der an der Grenze abgeschossene Jagdbomber Su-24 - hier eine baugleiche Maschine im syrischen Latakia - wird seit den Siebzigerjahren hergestellt. Russland hatte zwölf dieser Flugzeuge im September nach Syrien verlegt. (Foto: Imago)

Die Türken hatten da bereits Radarbilder veröffentlicht, die belegen sollen, dass der russische Jet durch ihren Luftraum flog; dass er auf syrischem Gebiet niederging, steht dem nicht unbedingt entgegen. Die Maschine flog demnach durch einen wenige Kilometer breiten Zipfel türkischen Gebiets, das nach Syrien hineinragt. Und es dauerte etliche Sekunden, wenn nicht Minuten, bis sie am Boden aufschlug. Aussage gegen Aussage.

Der Vorfall ist ernst. Ein russisches Flugzeug soll den Luftraum eines Nato-Staates verletzt haben, und es ist nicht das erste Mal. Doch diesmal hat das Nato-Land Türkei das russische Flugzeug abgeschossen. Alarmstimmung auf allen Seiten. In Ankara trifft sich die Staatsspitze mit dem Militär zum Krisengespräch, in Brüssel treten die Nato-Botschafter zusammen.

Seit September fliegen die Russen Luftangriffe in Syrien, und seither hat sich das Verhältnis zur Türkei rapide verschlechtert. In mindestens zwei Fällen verletzten russische Kampfjets den türkischen Luftraum; ein Mal gab Moskau dies zu - und schob den Zwischenfall trotz klaren Himmels auf schlechtes Wetter. Ein anderes Mal schaltete ein russischer Jet sein Feuerleitradar auf türkische Maschinen auf, die entlang der Grenze patrouillierten - er zielte also auf sie. Mehr Provokation geht kaum. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte Anfang Oktober, es handele sich bei den Luftraumverletzungen "nicht um ein Versehen". Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan warnte, beim nächsten Mal werde das Militär reagieren, und Russland werde "die Türkei verlieren".

Russische Kampfjets sind schon mehrfach in die Türkei eingedrungen

Die Scharmützel sind nicht zuletzt Ausfluss der Tatsache, dass die Türkei und Russland im Syrienkonflikt auf unterschiedlichen Seiten stehen. Putin stützt das Regime des Gewaltherrschers Baschar al-Assad. Erdoğan, von seinem Ego und Machtstreben her Putin nicht unähnlich, will Assad aus dem Weg räumen und unterstützt die Rebellen im Nachbarland.

Die engsten Verbündeten Ankaras dort sind die Milizen der syrischen Turkmenen, einer Volksgruppe im Norden des Landes, der sich Ankara wegen der kulturellen und sprachlichen Nähe besonders verbunden fühlt. Erdoğan begreift sein Land als Schutzmacht für die geschätzt 200 000 Angehörigen dieser Minderheit - die übrigens nichts mit dem gleichnamigen Turk-Volk in Zentralasien zu tun haben. Und so sind die syrischen Turkmenen von türkischen Elite-Einheiten ausgebildet worden.

(Foto: sz grafik)

Sie hatten sich im Sommer 2012 der Rebellion gegen Assad angeschlossen, kämpften zusammen mit der Freien Syrischen Armee und gehören zu einem breiten Bündnis der bewaffneten Opposition, das im Frühjahr die syrischen Regierungstruppen aus der Provinz Idlib vertrieben, die an die Türkei grenzt. Seit einigen Tagen fliegen die Russen massive Luftangriffe gegen sie. Und zwar in jener Region, in der jetzt der Kampfjet vom Himmel geholt wurde.

1500 Turkmenen seinen bereits vor den Angriffen in die Türkei geflohen, hatte die Zeitung Cumhuriyet am Sonntag berichtet. Andere Medien schrieben von bis zu 17 000 Flüchtlingen im Grenzgebiet. Die Lage der Turkmenen habe sich stark verschlechtert, seit die Russen eingegriffen haben. Das türkische Außenministerium bestellte den russischen Botschafter ein, um gegen die Angriffe zu protestieren. Am Dienstag sagt Premier Ahmet Davutoğlu: "Statt das Feuer in Syrien zu löschen, lassen sie es über Araber, Kurden und Turkmenen regnen." Die Türkei werde alles Nötige unternehmen, um sich zu verteidigen.

Die Turkmenen halten strategisch wichtige Stellungen, von wo sie die Küstenebene von Latakia unter Feuer nehmen können. Dort liegt das Kernland der Alawiten, jener schiitischen Minderheit, aus der die Herrscherfamilie Assad stammt. Seit ihrem Eingreifen in Syrien versuchen die Russen mit wenig Erfolg, eine Pufferzone um dieses und andere Gebiete des Regimes zu legen. Die syrische Armee kommt kaum voran, auch weil Saudi-Arabien den Rebellen über die Türkei moderne Panzerabwehrwaffen geliefert hat. Die Russen setzen zudem meist ungelenkte Munition ein, zivile Opfer sind die Folge. Das Ziel der russisch-syrischen Offensive ist, die Kontrolle über die Grenze zur Türkei von den Rebellen zurückzugewinnen und ihnen so den Nachschub abzuschneiden.

Die Piloten, die sich aus der Maschine katapultierten, wurden offenbar an ihren Fallschirmen hängend beschossen. Einer der beiden Piloten ist nach Angaben des russischen Generalstabs tot. Sicher ist das nicht. Auch gibt es Berichte, Rebellen hätten einen an einer Bergungsaktion beteiligten Hubschrauber abgeschossen und dabei einen Militärangehörigen getötet.

Russland und die USA hatten nach Moskaus Intervention in Syrien zähneknirschend Gespräche hochrangiger Offiziere vereinbart, die sich auf Verfahren einigten, um Zwischenfälle im Luftraum über Syrien zu vermeiden. Zuvor waren sich Kampfjets der beiden Staaten bis auf 30 Kilometer nahe gekommen, was bei den hohen Fluggeschwindigkeiten nur wenige Sekunden sind. Das Pentagon teilte denn auch am Nachmittag mit: "Wir können bestätigen, dass US-Einheiten nicht in diesen Zwischenfall involviert waren."

Für die Gewässer vor Syriens Küste, wo jetzt der französische Flugzeugträger Charles de Gaulle kreuzt, sind ähnliche Absprachen geplant. Putin hatte dies angeordnet, offenbar ein Versuch, seinen französischen Kollegen François Hollande für eine engere Kooperation zu gewinnen. An einem in Bagdad eingerichteten Syrien-Koordinierungszentrum sind Russland, Iran, Syrien und Irak beteiligt, nicht aber die Türkei oder anderer Staaten der von den USA angeführten Allianz gegen den IS.

© SZ vom 25.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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