Türkei:Neben der Spur

Lesezeit: 2 min

Der schwere Unfall, bei dem zwei Züge nahe Ankara kollidierten, ist kein Einzelfall: Seit 2003 kamen in der Türkei 1418 Menschen bei Zugunglücken ums Leben.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Es war der Tag, als die Türken erfuhren, dass ihr Land ins All aufbrechen will und eine "nationale Raumfahrtbehörde" gründen wird. Präsident Recep Tayyip Erdoğan verkündete zudem sein neues 100-Tage-Programm: noch mehr Großprojekte, Tunnel, Pipelines. Nur wenige Stunden zuvor war am Donnerstagmorgen um 6.36 Uhr, sechs Minuten nach der Abfahrt am Hauptbahnhof von Ankara, ein türkischer Hochgeschwindigkeitszug auf eine Lokomotive geknallt, die zur Gleisprüfung unterwegs war. Der Aufprall war so heftig, dass sich Teile des Zuges in die Luft schraubten, eine Fußgängerbrücke brach ein. Es gab neun Tote und 86 Verletzte. In dem Zug saßen 206 Menschen.

Für die Strecke Ankara - Konya, knapp 300 Kilometer, braucht der Zug laut Fahrplan gewöhnlich eine Stunde und 48 Minuten. Es ist eine der wenigen neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken der Türkei. Auch deren Ausbau gehört zu Erdoğans ehrgeizigen Plänen. Kritiker mahnen dagegen seit Längerem: Die Türkei wolle zu schnell zum Übermorgenland werden, sie vernachlässige die Sicherheit im Hier und Heute.

Nicht der erste schwere Zugunfall 2018

Auf dem Streckenabschnitt soll es keine funktionierende Signalanlage gegeben haben. Man habe sich auf Funkgeräte verlassen, sagte der Chef der Transportgewerkschaft BTS, Hasan Bektaş, türkischen Medien. Das Teilstück sei nach dem Bau übereilt für den Verkehr freigegeben worden. Die oppositionelle Zeitung Cumhuriyet erinnerte daran, wie die Regierung der ihr nahestehenden Baufirma für die "wundersame" schnelle Fertigstellung gedankt habe. Die Staatsanwaltschaft hat nun eine Untersuchung eingeleitet. Drei Mitarbeiter der staatlichen Eisenbahngesellschaft wurden festgenommen, ein Weichensteller, ein Fahrdienstleiter und ein Kontrolleur. Die Lokführer sind unter den Toten, wie auch ein deutscher Mitarbeiter der deutschen Entwicklungsagentur GIZ.

Es ist nicht der erste schwere Zugunfall in der Türkei in diesem Jahr. Im Juli starben in Çorlu, im Nordwesten des Landes, 24 Menschen, 318 wurden verletzt, als ein Zug mit 362 Reisenden entgleiste. Regen hatte das Gleisbett unterspült. Der Abgeordnete Ömer Fethi Gürer von der größten Oppositionspartei, der CHP, hat erst jüngst die Regierung gefragt, wie viele Zugunfälle es seit 2003 gab, so lange regiert die AKP. In der Antwort des Verkehrsministers, die der SZ vorliegt, heißt es: Bei 4141 Unfällen starben 1418 Menschen. Im Durchschnitt habe es jedes Jahr 276 Unfälle gegeben. Diese Zahlen liegen so weit über den bislang bekannten Angaben über Bahnunfälle in der Türkei, dass man sich auch im Büro des Abgeordneten wunderte. "Das ist gigantisch", sagte eine Mitarbeiterin des Politikers am Freitag der SZ, "aber so steht es in der Antwort." Nur 1,5 Prozent des Passagierverkehrs werden in der Türkei auf der Schiene abgewickelt.

Die Bahn wurde lange vernachlässigt. Einst war das Land stolz auf sein Schienennetz, mehr als hundert Jahre alte Bahnhöfe wie Sirkeci oder Haydarpaşa in Istanbul erinnern mit ihrem verblichenen Glanz an den Orient-Express oder die Bagdad-Bahn. In den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts war es vor allem amerikanischer Einfluss, der die Türken glauben ließ, die Zukunft gehöre der Straße, Bus- und Luftverkehr wurden gefördert. Erst in jüngster Zeit setzt man wieder auf die Bahn.

© SZ vom 15.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: