Tokio Hotel:Billy will's wissen

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Vom Rummel um ihre Personen ziemlich genervt verließen die "Tokio Hotel"-Zwillinge Tom und Bill Kaulitz vor sechs Jahren Deutschland. Nun wagt einer von ihnen den künstlerischen Neuanfang. Kann das gutgehen?

Von Laura Ewert

Es war als ein großes Experiment angelegt. Das größte im deutschen Pop vielleicht. Was macht es mit Kindern, wenn man sie den Traum vom Popstar leben lässt? Wenn sie minderjährig auf Bühnen stehen, vor denen sich ihnen Tausende Hände entgegenstrecken. Alle schauten dabei zu, wie die Zwillinge Tom und Bill Kaulitz der Band Tokio Hotel erwachsen wurden. Wie sie für Bravo-Poster posierten, wie sie sich schminkten, wie sie die großen Rock-Gesten aufführten, das erste Auto fuhren. Die Welt wartete auf Ausrutscher, Exzesse, nackte Frauen oder Männer. Und sie wartet immer noch, denn Tokio Hotel blieben freundlich, nahezu bodenständig. In den letzten Jahren schaute man in die USA, wohin sich die beiden Brüder abgesetzt haben. Und jetzt bringt Bill eine Soloplatte heraus, deren Titel verkündet, dass er sich wohl nicht ganz wohl fühlt. "I'm Not OK". Ein Hilferuf? Ein Ausrutscher? Ein Exzess?

Er war der Schwarm der Schulhöfe. Und auch das Gespött

Mehr als sieben Millionen Tonträger hat Tokio Hotel verkauft. Die Teenie-Band aus dem Raum Magdeburg ist in Moskau und Buenos Aires aufgetreten. Weltweit kritzelten junge Mädchen "I love Bill" an Scheiben und Wände. Dutzende verschiedene Awards hat Tokio Hotel gewonnen - auch den "Jugendpreis Fernlernen", weil die Kaulitz-Brüder ihren Realschulabschluss neben der Tournee absolvierten. 16 Jahre alt war Bill, als er zum etwas anderen Schwarm (und somit auch zum Gespött) der Schulhöfe wurde. Jetzt ist Bill 26 und längst machten sich auch Erwachsene in Parodiesendungen über die Art, wie er sich kleidet, die Art, wie er spricht, lustig. Die Fans ließ das schon früher nicht kalt: "Wenn ihr meint, Bill ist schwul, dann seid ihr selber schwul! Oder was auch immer", empörte sich einst ein Mädchen vor seiner Computerkamera und lud dieses Statement bei Youtube hoch. Der sehr emotionale Aufruf "Lasst Tokio Hotel-Fans in Ruhe" wurde millionenfach geklickt.

Im Jahr 2010 flohen die Zwillinge über Nacht nach Los Angeles, nachdem ihre Familie wiederholt von Fans belästigt wurde. Es gibt Videos von einer französischen Fangruppe im Netz zu sehen, die extra nach Hamburg zog, nur um die Band immer und immer wieder zu verfolgen, und es gibt Gerüchte, Tom soll einen Fan sogar geschlagen haben. Irgendwann reichte es den Kaulitz-Brüdern, sie packten ihre Koffer und kehrten Deutschland den Rücken. Die beiden anderen Bandmitglieder Georg und Gustav blieben hier und flogen nur zu Studioaufnahmen nach Los Angeles.

Bill Kaulitz heißt jetzt Billy, sieht ein bisschen aus wie ein gepiercter Mozart und nennt sich "Hybridkünstler". Auch nicht schlecht. (Foto: WireImage/Getty Images)

Heute sprechen Bill und Tom vor allem Englisch. In Videos sieht man sie Kaffee in Pappbechern durch die Straßen von L.A. tragen, mit klobigem Silberschmuck auf tätowierter Haut. Sie kehrten zwischendurch als Juroren für die sterbende Sendung "Deutschland sucht den Superstar" zurück, Bill arbeitete als Laufstegmodel und erschien auf den Covern einiger Modemagazine - blond, bärtig, weniger geschminkt als früher.

2014 erschien dann mit etwas Verspätung ein neues Tokio-Hotel-Album: "Kings of Suburbia", eine Dancepop-Platte. Für die Tour wurden die besten Bühnenlichtdesigner gewonnen, die Musikvideos wurden interessanter, künstlerischer, kontroverser. Doch die Fans, sie schienen den Weg nicht so recht mitgehen zu wollen. Die Tour war nicht ausverkauft, auch die Platte wurde nicht zum Megahit.

Es wurde ein Youtube-Kanal angemeldet: "Tokio Hotel TV". Hier durfte der Fan zusehen, wie seine Band Kostüme anprobiert, Radiointerviews gibt, Plakate unterschreibt, Hunde krault und ein Leben führt wie . . . nun, eben wie alle anderen Musiker. Mal hatte ein Flugzeug Verspätung, mal saßen die Musiker sehr lange im Auto und starrten aufs Smartphone. Ihre Bühnen wurden kleiner. Das öffentliche Interesse zumindest dann nicht, als sie sich einmal mit den Betreibern einer Berliner Konzertbühne anlegten, weil die Technik angeblich nicht so war wie gewünscht.

Erst Hollywood. Jetzt Berlin. Dann Paris. Die Frage ist: "Wo bleibt die Liebe?"

Mittlerweile ist der Vertrag von Tokio Hotel mit ihrer ehemaligen Plattenfirma ausgelaufen. Bill versucht sich deswegen neu zu erfinden, irgendwie. Dazu gehört, dass er sich nun Billy nennt. Am Wochenende stellte Billy Kaulitz sein Soloprojekt in Hollywood vor. An diesem Mittwoch zeigt er sich in der Berliner "Seven Star Gallery" vor ausgewähltem Publikum. Dann geht es weiter nach Paris und Mailand. Sein Album nennt er ein "Multi-Media-Hybrid", denn es enthält neben fünf Songs und Schwarz-Weiß-Kurzfilmen auch ein 128-seitiges Fotobuch mit Bildern von Billy - aber nicht von ihm aufgenommen.

Das waren noch Zeiten: Bill Kaulitz, damals 18, als Sänger von Tokio Hotel. (Foto: Carsten Rehder/dpa)

"I'm Not OK", das könnte vielleicht auch eine Botschaft an die Beobachter jenes Experiments sein, das in der frühen Kindheit der Kaulitz-Brüder auf den Bühnen rund um den Ort Loitsche nahe Magdeburg begann. Denn es geht hier, wie Billy erklärt, "um die schmerzhafte Suche nach der Liebe". Die Single, sagen wir es so, wird die Suche nicht sofort beenden, denn es ist eine Ballade ohne wirklichen Refrain samt einem Video, in dem Billy sich sorgend in Laken wälzt.

Da geht also noch was. Und das Experiment, es läuft einfach immer weiter.

© SZ vom 04.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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