Tod dreier Frühchen in Siegen:"Sie sind einfach verfallen"

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Tagelang haben Experten nach möglichen Ursachen gesucht, haben Gutachter die Abläufe und die Einhaltung der Hygienevorschriften überprüft. Alles vergeblich: Die Kinderklinik in Siegen kann noch immer nicht erklären, warum drei Frühchen so kurz nacheinander sterben mussten.

Bernd Dörries

Rainer Burghard sagt, er hoffe, dass alles nur ein Zufall war. Das mache die Sache zwar nicht besser und helfe auch den Eltern nicht. Aber es sei wenigstens eine Erklärung für das, was passiert ist, für diese schreckliche Häufung von Todesfällen. "Ein Fall kommt selten allein", so gehe das Sprichwort unter den Medizinern, sagt Burghard. Aber Sprichwörter, das weiß auch Burghard, helfen derzeit niemandem weiter.

"Immer einen Schritt zu spät": Chefarzt Rainer Burghard hat keine Erklärung für die tragischen Todesfälle. (Foto: dpa)

Burghard ist Chefarzt der Abteilung für Neonatologie in der Kinderklinik Siegen. Neonatologie, so nennt man den täglichen Kampf um das Überleben von Babys, die viel zu früh auf die Welt gekommen sind. Burghard hat diesen Kampf oft gewonnen in den vergangenen Jahren, das sagen die Statistiken, in denen er fünf Prozent über dem Landesdurchschnitt liegt. In den vergangenen Tagen hat er den Kampf aber so oft verloren, dass er selbst misstrauisch wurde und die Staatsanwaltschaft informierte. Drei Kinder sind gestorben in der Kinderklinik Siegen, kurz nacheinander. Zwei Jungen, ein Mädchen. Sie wurden zwei Tage, sieben Tage und drei Monate alt.

Sie sind einfach verfallen", sagt Burghard am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Verfallen, so nennt man es in der Sprache der Medizin, wenn der Körper zusammenbricht. "Ein Multiorganversagen, wir kamen immer einen Schritt zu spät." Jeweils sechs bis 18 Stunden habe der Kampf um das Leben der drei Frühchen gedauert, dann war es vorbei. Nach dem dritten Tod hat die Klinik das Gesundheitsamt informiert und die Staatsanwaltschaft. Dann hat sie geschwiegen. Das machte viele misstrauisch. Sie waren auf manches vorbereitet in Siegen, aber nicht auf das, was die Verwaltungsleiterin Stefanie Wied den "Ausnahmezustand" nennt.

Vor dem Haus auf einem Berg in Siegen stehen die Hünen eines privaten Sicherheitsdienstes, mit einem Knopf im Ohr. Es sieht aus, als käme gleich irgendein hoher Politiker vorbei. Die Klinik wird aber nur vor der Boulevardpresse bewacht, die in den vergangenen Tagen ihren Auftrag darin sah, hysterisch zu fragen, wie sicher diese Kinderklinik noch sei - die das Sicherheitsrisiko selbst aber nicht gerade minimierte, in dem ihre Fotografen in die Klinik eindrangen und dort Bilder schossen.

Die Frage sei ja berechtigt, sagt die Klinikchefin: Wie sicher ist es derzeit in der Kinderklinik? "Nach menschlichem Ermessen haben wir kein Risiko", erklärt Wied. Drei Tote und kein Risiko? Man kann darin einen Widerspruch sehen.

Suche nach Ursachen bleibt ergebnislos

Mehre Tage lang haben verschiedene Experten in der Klinik nach möglichen Ursachen gesucht, und nichts gefunden. Externe Gutachter und das Gesundheitsamt überprüften die Abläufe und die Einhaltung der Hygienevorschriften. Desinfektionsmittel und Infusionslösungen wurden ausgetauscht; letzteres vor allem, weil vor einem Jahr eine verunreinigte Nährmittellösung die Ursache für den Tod dreier Babys in einer Mainzer Klinik war. An einer der Flaschen, aus denen die Lösung gemischt wurde, war damals ein Haarriss entdeckt worden. Woher aber die Bakterien in die Flüssigkeit kamen, konnte die Staatsanwaltschaft damals nicht ermitteln.

"Natürlich schwebt Mainz über allem", sagt Wied. Nur habe man eben nichts gefunden, keine Anhaltspunkte. "Wir sind in der unerträglichen Situation, den Eltern nicht sagen zu können, woran ihre Kinder gestorben sind."

Das, was man in ihrer Klinik mache, sagt Wied, der Kampf um das Überleben von Frühchen, habe viel mit Medizin zu tun, aber auch mit Vertrauen. Die Ärzte könnten nicht jedes Kind auf der Welt behalten, auch wenn alles versucht wurde.

Das müssten die Eltern wissen. Und das wird ihnen auch in diesen Tagen wieder erklärt. Noch habe niemand die Klinik verlassen, noch bestehe Vertrauen, noch sind die Brutkästen fast alle belegt. "Wir werden nicht gemieden", sagt die Chefin.

Die drei verstorbenen Kinder waren nach Angaben der Ärzte "sehr unreif". Sie gehörten zu jenen Hochrisikofällen, die bei der Geburt unter 1250 Gramm wiegen: 48 solcher Kinder habe die Klinik im vergangenen Jahr behandelt, sagt Chefarzt Burghard, die Überlebensquote lag bei fast 79 Prozent: fünf Prozentpunkte über dem Landesschnitt. Das ist, wie gesagt, seine Bilanz. In diesen Tagen ist es vor allem eine Rechtfertigung.

© SZ vom 08.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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