Samstag, 1:46 Uhr, die havarierte Costa Concordia neigt sich zur Seite. Noch sind Hunderte Menschen an Bord. "Sie müssen uns sagen, wie viele Leute da noch sind, Kinder, Frauen, Passagiere, die genauen Zahlen in jeder Kategorie!", der Offizier, der im Hafen der Insel Giglio Dienst hatte, klingt ungehalten. Am anderen Ende der Leitung: Kapitän Francesco Schettino, der sich zu diesem Zeitpunkt wohl bereits nicht mehr auf dem Schiff befand.
Havariertes Kreuzfahrtschiff "Costa Concordia":Tödliches Chaos
Fast waagerecht liegt die "Costa Concordia" mittlerweile auf dem Wasser, die Steuerbordseite ist komplett versunken. Im Inneren des Wracks herrschen Chaos und Zerstörung - nur mühsam kämpfen sich die Rettungskräfte ins Innere des Wracks vor. Die Bilder der Schiffskatastrophe.
Dass der Concordia-Kapitän das Schiff frühzeitig verlassen hat, diesen Verdacht erhärten nun mitgeschnittene Telefonate. Diese stammen aus dem Hafenamt von Livorno und sind inzwischen unter anderem über die Webseite der italienischen Tageszeitung La Repubblica als Audiofiles abrufbar.
Der Offizier weist Schettino an, aufs Schiff zurückzukehren: "Comandante, das ist ein Befehl, von jetzt an bin ich in der Verantwortung, denn Sie haben erklärt, dass Sie das Schiff verlassen haben. Begeben Sie sich zum Bug, klettern die Rettungsleiter hoch und leiten die Evakuierung!" Der Mann weiter: "Was machen Sie? Geben Sie die Rettung auf?" "Nein, nein", beteuert Schettino, "ich bin da, ich koordiniere die Rettung."
Der Tonfall des Offiziers wird immer schärfer, er teilt Schettino mit, dass es bereits Leichen gebe. "Wie viele?", will Schettino wissen. "Das müssen doch Sie mir sagen!", ruft der Offizier zurück. Wo genau sich Schettino zum Zeitpunkt des Telefonats befindet, ist unklar. Augenzeugen wollen ihn bereits kurz nach Mitternacht am Ufer gesehen haben.
Francesco Schettino sitzt derzeit im Gefängnis in der italienischen Provinzhauptstadt Grossetto ein. An diesem Dienstagvormittag wurde er dem Ermittlungsrichter vorgeführt, der über seine weitere Inhaftierung entscheiden wird. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung, vorzeitigem Verlassen des Schiffs sowie Herbeiführung von Schiffbruch. Sechs Menschen waren bei dem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Als vermisst gelten 29 Menschen.
Die Reederei Costa Crociere teilte mit, dass ihre Routen festgelegt seien, bei Abweichungen würde das Sicherheitssystem des Schiffs sofort Alarm schlagen. Im Fall der Costa Concordia sei die Route korrekt programmiert gewesen. "Die Tatsache, dass sie von diesem Kurs abwich, ist einzig auf ein Manöver des Kapitäns zurückzuführen", hieß es weiter.
Schettino selbst hatte noch vor einem Jahr einer tschechischen Zeitung ein Interview gegeben, in dem er auch auf das Schiffsunglück der Titanic angesprochen wurde. Der Concordia-Kapitän erklärte, dass Kreuzfahrtschiffe heute sehr viel sicherer seien und es dank der modernen Technik sehr viel einfacher sei, diese zu navigieren. Auch sagte er, dass er es genießen würde, wenn etwas Unvorhersehbares passiere, wenn man ein bisschen von den Standards abweichen könne: "Ich mag Herausforderungen!"
Womöglich wollte Schettino mit seinem waghalsigen Manöver vor der Insel Giglio einen Schiffsangestellten beeindrucken, der von dort stammt. Um kurz nach 21 Uhr soll die Schwester des Oberkellners Antonello Tievoli auf ihrer Facebook-Seite gepostet haben: "In Kürze wird die Concordia der Costa Crociere sehr, sehr nah an uns vorbeifahren. Einen Riesengruß an meinen Bruder, der in Savona endlich von Bord gehen wird, um ein bisschen Urlaub zu machen."
Kreuzfahrtschiff havariert:Die letzte Fahrt der "Costa Concordia"
Eine Traumreise endete jäh: Kurz nach der Abfahrt von der italienischen Insel Giglio schrammt die "Costa Concordia" über Felsengrund, die Schiffswand reißt auf, das Kreuzfahrtschiff bekommt Schlagseite, an Bord bricht Panik aus und mindestens sechs Menschen sterben. Die Bilder der Havarie.
Auch, dass das Manöver - genannt inchino, die Verbeugung - nicht zum ersten Mal stattfand, bestätigt sich in dem Eintrag auf dem sozialen Netzwerk. Auf die Frage eines Freundes, wann genau das Schiff vorbeifahren werde, antwortete ein anderer Nutzer: "Um 21:30 Uhr, wie immer."
Tievoli hatte am Vortag berichtet, dass ihn Schettino kurz vor dem Auflaufen auf den Felsen auf die Brücke habe rufen lassen. "Schau mal, Antonello, wir sind auf Höhe von deinem Giglio", soll der Kapitän zu seinem Crewmitglied gesagt haben. Tievoli soll dann noch gesagt haben: "Vorsicht, wir sind ganz nah am Ufer." Die Warnung kam zu spät.
Völlig unverständlich ist auch das anschließende Verhalten des Kapitäns, wie dies nun aus den mitgeschnittenen Telefonaten hervorgeht: Nachdem Passagiere die Hafenbehörde in Livorno alarmiert hatten, meldete sich der diensthabende Offizier erstmals um 21:49 Uhr bei Schettino. Kurz zuvor waren die automatisch gesendeten Signale der Schiffsposition (AIS-Signale) abgerissen - möglicherweise aufgrund eines Stromausfalls.
" Concordia, ist alles okay?" "Positiv!", soll der Kapitän geantwortet haben. "Wir haben nur ein kleines technisches Problem." Fünf Minuten später dann der nächste Anruf. " Concordia, wir wollen wissen, ob alles okay ist." Wieder soll Schettino abgewiegelt haben: "Nur ein technisches Problem." Von diesem Zeitpunkt an scheint die Besatzung mehr als zwei Stunden nicht auf die Telefonate reagiert zu haben.
Erst um 0:32 gibt es die nächste Aufzeichnung. "Wie viele Personen sind an Bord?", will der Offizier wissen, der im Hafen der Insel Giglio Dienst hatte. "Etwa dreihundert", sei die Antwort des Kapitäns gewesen. Tatsächlich ist die Evakuierung zu diesem Zeitpunkt noch in vollem Gange. "Warum nur so wenige Leute?", fragt der Mitarbeiter. Und: "Sind Sie an Bord?" Nein, soll Schettino daraufhin herausgerutscht sein. Das Schiff sei zur Seite gekippt, er habe es verlassen.
Um 1:46 Uhr folgt das Gespräch, in dem der Offizier Schettino den Befehl erteilt, an Bord zurückzukehren. "Okay, ich gehe", soll Schettino geantwortet haben. Stattdessen sei er einem Bericht von ilfattoquotidiano.it zufolge in ein Taxi eingestiegen - und habe den Fahrer gebeten: "Bringen Sie mich weg von hier."
______________________________________________________________
In einer früheren Version des Textes hieß es unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AFP, die Telefonate seien von der Black Box des Schiffes mitgeschnitten worden. Wie der Nutzer Shortdiver richtig anmerkt, sind nun Audiofiles verfügbar, aus denen klar hervorgeht, dass die Aufnahmen von der Hafenbehörde stammen.