Studie:Waisenkind mit Eltern

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Die meisten Kinder in Waisenheimen sind gar nicht elternlos. Eine Hilfsorganisation fand heraus, dass viele Eltern ihre Kinder vorschnell in Heime geben.

Überraschendes Ergebnis einer neuen Studie der Kinderhilfsorganisation "Save the Children": Weltweit sollen vier von fünf Kindern in Waisenheimen noch Eltern haben. Sie gehörten daher eigentlich nicht in öffentliche Einrichtungen, sondern zu ihren Familien.

Ein kleiner Junge in einem Waisenheim im Kongo. Kinderhilfsorganisationen warnen, dass das Leben im Heim Kindern schadet. (Foto: Foto: dpa)

"Es ist ein Mythos, dass Kinder in Waisenheimen keine Eltern haben", sagt Corinna Csaky, eine der Autorinnen des Berichts. Die meisten seien dort, weil ihre Eltern es sich nicht leisten könnten, für Essen, Kleidung und Schulbücher zu bezahlen.

Besonders drastisch seien die Zustände im östlichen Europa. Dort hätten bis zu 98 Prozent der angeblichen Waisen noch Vater oder Mutter. Insgesamt leben dort fast eine Million Kinder in öffentlichen Einrichtungen.

Weltweit sind nach Zahlen der UN acht Millionen Kinder in Waisenheimen registriert. Die Kinderhilfsorganisation "Save the Children" geht jedoch davon aus, dass die wirkliche Zahl deutlich höher liegt, da gerade in Entwicklungsländern viele Heime nicht öffentlich angemeldet seien.

Eltern geben eigene Kinder ins Heim ab

Die Daten, die der "Save the Children"-Bericht nennt, beruhen auf einer Hochrechnung einzelner Länderumfragen. Rudi Tarneden, Sprecher der UN-Hilfsorganisation Unicef bezweifelt, dass die Zahl der angeblichen Waisen wirklich so hoch ist. "Aber ich kann bestätigen, dass ein großer Anteil der Kinder in Heimen Eltern haben. Das ist bekannt."

Tarneden erklärt, dass daran oft der sogenannte Institutioneneffekt schuld sei: "In dem Moment, wo es Einrichtungen gibt, werden die auch genutzt." Viele arme Eltern gäben ihre Kinder aus Hilflosigkeit ab.

Als Beispiel dafür nennt der "Save the Children"-Bericht Indonesien. Nach dem Tsunami im Dezember 2004 und Medienberichten über Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, stiegen die internationalen Spenden für Kinderheime um das Vierfache. Neue Heime wurden gebaut - und von verzweifelten Eltern als letzter Ausweg angesehen.

"Fast alle 'Tsunami-Waisen' (97,5 Prozent) wurden von den eigenen Eltern im Heim abgegeben", heißt es in dem Bericht. Die Familien hofften, ihren Kindern so eine bessere Ausbildung zu ermöglichen - wofür ihnen nach dem verheerenden Tsunami das Geld fehlte.

Kleine Heimbewohner bleibende Schäden davon

Die Hoffnungen auf ein besseres Leben im Heim erfüllen sich jedoch selten. Vielmehr füge die Trennung von ihren Eltern, Gewalt und Ausbeutung in vielen Hilfseinrichtungen den Kindern schweren und nachhaltigen Schaden zu, sagt Csaky.

Die Schrecken etwa, die deutsche Heimkinder in den 1950er und 1960er Jahren erlebten, belasten viele heute noch. Auch in den USA kommt Gewalt gegen Kinder in Heimen sechsmal häufiger vor als in Pflegefamilien. In Kasachstan berichteten zwei Drittel der befragten Kinder, dass ihnen im Heim Gewalt zugefügt wurde.

Selbst wenn Heime gut geführt und kontrolliert werden, betrachten Kinderhilfsorganisationen sie als schlechtmöglichste Lösung. Studien zeigen, dass Kinder in öffentlichen Einrichtungen häufig Verhaltensstörungen entwickelten. Besonders für Kinder unter drei Jahren sei das Heim schädlich. Ihr Intelligenzquotient bliebe häufig deutlich zurück, da ihnen Ansprache und Spielmöglichkeiten fehlten.

In Deutschland bemüht sich die Politik daher seit Ende der sechziger Jahre, weniger Kinder in Heime einzuweisen und sozial benachteiligte Familien und Pflegefamilien stärker zu unterstützen. Kurz vor Beginn der weihnachtlichen Spendenzeit appelliert "Save the Children", dass dies auch für Spenden gelten sollte.

Die Mehrheit der Tsunami-Waisen hätte dem Heim entkommen können, wenn Spenden direkt an die betroffenen Familien und Gemeinden anstatt an Waisenheime geflossen wäre, heißt es in dem Bericht.

Diesen Aufruf unterstützt auch Unicef. "Es ist wichtig, dass Kinder möglichst bei ihren Angehörigen aufwachsen", sagt Tarneden. Das Heim sei immer die letzte Möglichkeit.

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