Missbrauchsfall Staufen:"Er traut heute sicher niemandem"

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Symbolbild (Foto: Brandon Wong/Unsplash; Bearbeitung SZ)

Im Staufener Missbrauchsfall muss die Mutter des Jungen für viele Jahre ins Gefängnis, ihr Lebensgefährte ebenso. Doch was wird aus dem Opfer? Eine Therapeutin erzählt, wie Kinder so eine Traumatisierung verkraften.

Interview von Thorsten Schmitz

Die Vorwürfe, die im Missbrauchsfall in Staufen vor Gericht aufgelistet wurden, sind in ihrem Ausmaß wohl beispiellos: Jahrelang ist ein Junge missbraucht und gedemütigt worden, von fremden Männern, vom Lebensgefährten seiner Mutter - sogar von seiner Mutter selbst. Sie wurde zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt, ihr Lebensgefährte zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung. Doch wie geht es für den heute Zehnjährigen weiter? Wie kann ein Mensch solch traumatische Erfahrungen verarbeiten? Marianne Leuzinger-Bohleber ist eine Schweizer Psychonalaytikerin. Sie ist emeritierte Professorin für Psychoanalyse an der Universität Kassel und aktuell Senior Scientist am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und an der Universität Mainz. Zu ihren Spezialgebieten gehört die Entwicklungspsychologie in der frühen Kindheit und dem Jugendalter.

SZ: Wie verkraften Kinder einen sexuellen Missbrauch?

Marianne Leuzinger-Bohleber: Der wichtigste Überlebensmechanismus - denn diese Kinder müssen ja irgendwie überleben - ist, dass sie eine sogenannte Dissoziation ausleben. Sie verfügen über einen seelischen Mechanismus, bei dem sie sich aus einer Vogelperspektive zuschauen. Das ist ein Schutz, damit man die physischen und die seelischen Schmerzen nicht mehr aushalten muss. Man tut also quasi so, als wenn man nicht da wäre. Das ist eine extreme Form der Entfremdung.

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Der Missbrauchsfall von Staufen schockiert sogar erfahrene Ermittler. Ihren Anfang nahm die Geschichte bereits im Jahr 2005, nun fällt das Urteil gegen eine Mutter und ihren Lebensgefährten.

Wie äußert sich diese Entfremdung?

Am schlimmsten für diese Menschen ist, dass sie überhaupt nicht mehr in der Gegenwart leben. Sie verlieren die Unmittelbarkeit und die Fähigkeit, den Augenblick zu erleben, Beziehungen einzugehen, aber auch sich zu konzentrieren oder sich am Leben zu erfreuen. Opfer extremen sexuellen Missbrauchs entwickeln so einen Mechanismus, als seien sie nicht mehr ganz da auf dieser Welt.

Es heißt oft, dass sexuell missbrauchte Kinder sich selbst die Schuld geben. Beobachten Sie das auch?

Besonders Vorschulkinder, aber auch ältere Kinder oder Jugendliche empfinden sich als der Schuldige: "Ich bin der Böse, deshalb ist mir das passiert. Ich bin nicht das passive, zufällige Opfer, das völlig hilflos war, sondern ich hatte heimlich doch die Zügel in der Hand." Diese irrationale Zuschreibung einer Mittäterschaft scheint psychisch leichter zu ertragen zu sein als die Wahrheit, dass es die Täter sind, in diesem Falle die Eltern des Jungen, die die Verantwortung für den Missbrauch haben. Die Schuldgefühle wirken sich negativ auf das eigene Selbstbild und die weitere Entwicklung aus. Die Schuldgefühle kann eine Therapie nicht löschen, aber man kann sie relativieren und sie verstehen.

Der Junge lebt jetzt bei Pflegeeltern. Auf was müssen die achten?

Wichtig ist, dass er in einer sicheren, zuverlässigen, warmherzigen und liebevollen Struktur gelandet ist. Bei Menschen, die eine Einfühlung haben in das, was der Junge erlebt hat, die aber auch Respekt haben vor ihm. Dazu gehört, dass sie ihn nicht zwingen, etwa dankbar oder gut gelaunt zu sein, weil er jetzt bei ihnen ist.

Was fühlen Kinder, die sexuell missbraucht worden sind?

Solche Menschen sind emotional oft gedämpft und leben wie hinter einer Schutzwand oder in einem Kokon. Bei sexuellem Missbrauch wird man mit Reizen überflutet, immer auch verbunden mit riesigen Ängsten, bis hin zur Todesangst. Das alles führt zu einem Zusammenbrechen des Urvertrauens in ein Gegenüber. Das war ja in diesem Fall besonders krass, weil die Eltern ihren Sohn ausgeliefert haben, auch seine Mutter.

Welchen Effekt hat zerstörtes Urvertrauen auf einen Menschen?

Dass man anderen Menschen mit einem abgrundtiefen Misstrauen begegnet, weil man erwartet, dass wieder etwas Schlimmes passiert. Die Grunderfahrung vom auftauchenden Selbst bei Kindern sollte sein: Ich kann etwas tun, um mich aus einer furchtbaren Situation zu befreien. Dass, wenn ich in Not bin, ich etwas tun kann. Schon Säuglinge schreien, wenn ihnen etwas fehlt. Bei dem Jungen war die dramatische Situation dadurch charakterisiert, dass das nicht ging. Er konnte nicht davonlaufen, er war seinen Tätern ausgeliefert. Er traut heute sicher niemandem.

Marianne Leuzinger-Bohleber, Schweizer Psychoanalytikerin am Sigmund-Freud-Institut. (Foto: Privat)

Wie kann der Junge wieder Vertrauen gewinnen in Menschen?

Das braucht Zeit und eine professionelle empathische Umgebung. Im Alltag ist es unheimlich wichtig, dass er über sein Leben im Kleinen wieder anfangen kann zu bestimmen. Er soll sagen, was er zum Frühstück und wie er sein Zimmer einrichten will. Ich kenne das Kind ja nicht, aber es könnte auch sein, dass er überhaupt gar nicht mehr sagen kann, was ihm gut tut.

Können die seelischen Wunden des Jungen je geheilt werden?

Ich wäre nicht Therapeutin, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass man auch etwas lindern kann. Die seelischen Verletzungen lassen sich nicht löschen, das ist die traurige Botschaft. Das sind Zerstörungen, mit denen man ein Leben lang zu tun hat. Aber man muss sich nicht mehr nur davon bestimmen lassen. Therapie kann helfen, dass man diese Erfahrungen in der Seele eingegrenzt bekommt. Ich habe schon einige Menschen therapiert, die sexuell missbraucht wurden. Mich beeindruckt, dass viele von ihnen, obschon sie enormes Leiden erfahren haben, sehr sozial sensible, engagierte Menschen geworden sind.

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