Spanien:Zum Heulen

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Im Gegensatz zu ihrem Mann derzeit in Freiheit: Nadia Nerias Mutter. (Foto: Quique Garcia/dpa)

Ein spektakulärer Spendenskandal um ein behindertes Mädchen in Spanien nimmt eine überraschende Wendung: Womöglich ist die elfjährige Nadia gar nicht die Tochter ihrer betrügerischen Eltern.

Von Thomas Urban, Madrid

In Spanien dachte man, es wäre schon genug Schlimmes über den Fall der behinderten Nadia Neria herausgekommen. Doch nun hält eine weitere Wende in dem Spendenskandal die Bevölkerung in Atem. In der vergangenen Woche waren die Eltern der Elfjährigen festgenommen worden, sie sollen den Löwenanteil aus rund einer Million Euro, die im Laufe der letzten acht Jahre für eine kostspielige Therapie des Kindes in einer Spezialklinik in Houston/Texas gespendet worden waren, einfach verprasst haben. Nun hat ein Richter einen DNA-Test angeordnet, um festzustellen, ob die beiden überhaupt die Eltern sind. Der Vater hatte sich nämlich im Verhör verplappert, er sagte: "Ich habe sie wie meine Tochter behandelt."

Traditionell machen die Spanier im Advent zwei Dinge: Sie kaufen Lose für die große Weihnachtslotterie und sie spenden für einen guten Zweck. So sind im Advent die Medien voll von herzzerreißenden Geschichten über Kranke, denen Geld für eine Operation, eine Therapie, eine Prothese fehlt. Eine solche Geschichte schrieb auch ein Lokaljournalist aus dem katalanischen Lleida über Nadia Neria, die in Madrid erscheinende konservative Tageszeitung El Mundo druckte die Story mitsamt der Nummer des Spendenkontos ab.

Auf ihre Webseite stellte die Redaktion auch noch einen Kurzfilm: Darin kämpft der Vater mit den Tränen, mal sitzt Nadia auf seinem Schoss, mal schaut sie mit großen Augen in die Kamera. Sie leide an Trichothiodystrophie (TTD), einer Stoffwechselkrankheit, die brüchige Haare und Hautekzeme verursacht, überdies die Betroffenen rapide altern lässt. Sie sei schon mit einer "merkwürdigen Schlangenhaut" auf die Welt gekommen, sagte der Vater. Nur 36 Menschen auf der ganzen Welt litten an TTD. Doch nun habe der Nobelpreisträger Edward Brown in Houston eine wirksame, aber extrem teure Therapie entwickelt. Innerhalb von drei Tagen gingen rund 150 000 Euro auf dem Spendenkonto ein.

Den Artikel las allerdings ein Medizinblogger und stutzte gleich beim Namen Edward Brown. Denn einen solchen Nobelpreisträger gibt es nicht. Ebenso wenig die Spezialklinik in Houston. Der Blogger forschte weiter. So erfuhr er, dass sich die Nadia-Neria-Gesellschaft, die der Vater zum Spendensammeln gegründet hat, vergeblich bemüht hat, von der Spanischen Gesellschaft für seltene Krankheiten ein Beglaubigungsschreiben zu bekommen. Auch gibt es mehrere Tausend TTD-Fälle und nicht nur 36, wie behauptet.

Auf den Bericht des kritischen Bloggers wurden die Macher der Website "Mala Prensa" (Schlechte Presse) aufmerksam, die sich darauf spezialisiert haben, Verdrehungen, Falschdarstellungen und Fälschungen der etablierten Medien aufzuspießen. Und von dort fand die falsche Leidensgeschichte dann ihren Weg in die linksliberale Tageszeitung El País.

Darauf reagierte die Staatsanwaltschaft in Lleida: Sie ließ die Telefone der Eltern abhören. Als diese besprachen, dass sie sich nach Frankreich absetzen wollten, errichtete die Polizei Straßensperren am Fuß der Pyrenäen und fischte die Flüchtenden aus dem Verkehr. Eine Hausdurchsuchung erbrachte genügend Beweismaterial, um den Vater in Untersuchungshaft zu lassen. Die Mutter kam zwar wieder frei, doch wurde ihr das Sorgerecht entzogen. Vertreter des Jugendamtes brachten das Mädchen erst einmal zu Verwandten auf Mallorca.

In dem Haus des betrügerischen Pärchens fanden die Ermittler große Summen an Bargeld und Armbanduhren für rund 50 000 Euro, auf dem Bankkonto lagen mehr als 300 000 Euro. Die Kontoauszüge belegen, dass die Spendengelder für Luxusgüter und -reisen ausgegeben wurden, nicht aber für die Therapie der Tochter. Diese soll nun vom Amtsarzt untersucht werden. Die Staatsanwaltschaft hat den Verdacht, dass sie überhaupt nicht an TTD leidet. Allerdings steht außer Zweifel, dass sie leicht geistig und körperlich behindert ist; dies haben Nachbarn und auch Lehrer aus Biniali auf Mallorca bestätigt, wo die Familie früher wohnte.

Auf der Ferieninsel war das angeblich unheilbar kranke Kind schon jahrelang immer wieder mit seinem Vater in den Medien aufgetreten. Lokalpolitiker und die Spieler von Real Mallorca posierten mit Nadia für Fotos, eine Popgruppe widmete ihr einen Videoclip. Der Vater berichtete nicht nur von Untersuchungen in Houston, sondern auch, wie er mit der Kleinen eine gefährliche Reise nach Afghanistan angetreten habe, auf der Suche nach einem in einer Höhle lebenden Guru mit Heilkräften. Sein letzter Coup: Er selbst sei wegen der Sorge um die Tochter an Krebs erkrankt, könne seine eigene Therapie aber nicht finanzieren, da alle Spendengelder Nadia zukommen sollten. Wieder flossen mehrere Zehntausend Euro auf das Konto.

Kommentatoren sehen den Fall als Symptom für eine Medienkrise: Unter dem Druck des Internets nähmen sich viele Redaktionen nicht mehr die Zeit, Inhalte zu überprüfen. El Mundo bekundet Reue: Der rührselige Artikel wurde auf der Webseite mit einem Warnhinweis versehen: Er enthalte "schwere journalistische Fehler". Die Lokalpresse von Mallorca, die jahrelang für Nadia Neria getrommelt hatte, recherchierte nun das Vorleben der Eltern. Es stellte sich heraus, dass diese als Schuldner bekannt sind, der Vater soll seinen Porsche nie bezahlt haben. Auch war er als Kneipier und Boutiquenbesitzer gescheitert. Erst die Idee mit den Spendenaktionen brachte Geld ins Haus. Und schließlich wurde noch bekannt, dass der Vater wegen Betrügereien bereits vorbestraft war, einmal war er zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Als Wiederholungstäter könnte für ihn nun noch mehr herauskommen.

© SZ vom 14.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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